Freising, Oberbayern, im Sommer 2052.
Es ist einer dieser eisernen Tage im August, an denen das Thermometer nicht mehr unter 40 Grad fällt und die Luft so starr und still steht wie ein Amboss. Kripo-Cleaner Benny K. quält sich zum Tatort im Lindwurm VII, eine der bisher insgesamt acht Siedlungen, die seit den 30er Jahren zwischen München und dem Flughafen bei Freising aus den Klimaflüchtlingslagern entstanden sind.
Die ältesten Siedlungen – Lindwurm I bis III – sind bekanntlich mittlerweile richtige Städte, billig und schnell hochgezogen zwar, aber doch mit einer gewissen städtischen Infrastruktur ausgestattet. Hier wohnen Flüchtlinge, die entweder schon viele Jahre im Lager leben oder die aus irgendwelchen Gründen bevorzugt behandelt werden, weil sie zum Beispiel aus den unbewohnbaren Teilen Geo-Europas kommen: Landstriche in Süditalien und Zentralspanien, dem Balkan und Griechenland, oder dem Seuchengebiet der Camargue. Die Lager IV bis VI, nicht ganz so alt wie I bis III, sind Zeltstädte, hier werden zumeist die Flüchtlinge aus Afrika und dem Maghreb-Mittelmeerraum untergebracht.
In den neuesten beiden Ghettos herrscht noch nacktes Chaos, es sind wild wuchernde Lager, hier werden Flüchtlinge aus Asien, vor allem aus dem 2043/44 versunkenen Bangladesh, zusammengepfercht, die es auf unterschiedlichsten Wegen geschafft haben, sich bis Europa durchzuschlagen.
Und natürlich liegen die gemeldeten Mordopfer genau hier.
Benny K., der im Jahr 2015 als 12jähriger selbst als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland gekommen war (s. DIDImos-Malabona-Protokolle), kämpft sich durch zum Tatort, wo die bestialisch zugerichteten Toten liegen, ein Mann und eine Frau, geradezu ritualmäßig hingerichtet… Was ist hier passiert? Als er erkennt, dass das ermordete Paar eigentlich in Lindwurm 1 lebte – wohlhabendere Klimaflüchtlinge aus dem Dengue-Becken in Südfrankreich – und hier niemals hätten herkommen dürfen, da ahnt er, dass es harte und gefährliche Tage für ihn werden.
Stoisch beginnt Benny K., sich durch einen Dschungel aus Not, Angst, Hass, Verzweiflung, Religiosität, Wahn und Wut zu kämpfen. Er bleibt dabei im Umkreis der „Höllenlager“ und ist durch seinen implemented smart chip mit allen wichtigen Abteilungen und Datenbanken verbunden. Begleitet und unterstützt wird er von seiner jungen Kollegin Jill A., von der K. vermutet, dass sie zu jenen Geschöpfen zählt, die in China im Reagenzglas zusammengebraut wurden. Jill selbst bestreitet das zwar und behauptet, ganz biokörperlich in Deutschland gezeugt und geboren zu sein. Aber gab es nicht in den 30er Jahren jenen Skandal, als herauskam, dass in Chinas Biotech-Fabriken Menschen bereits in Serie geklont werden – und dass manche der Klone über eine Adoptionsliste ins westliche Ausland verkauft wurden?
Jedenfalls begegnet Benny K. seiner jungen Kollegin mit einer gewissen Skepsis.
Aber der Fall in den Höllenlagern schlägt seinen eigenen Takt. Der erste Verdacht lautet: Die Opfer Yves G. und Anouk L. waren auf der Suche nach der in diesen Lagern zirkulierenden Droge Propo , einer illegalen chemischen Weiterentwicklung des seit langem bekannten Narkotikums Propofol. Sind bei dem Narkotikum gelegentlich auftretende halbbewusste sexuelle Erregungszustände als Nebenwirkungen bekannt, steigert die Droge Propo diese „Nebenwirkungen“ ganz immens, es ist ihr wesentlicher, sofort einsetzender und mehrere Stunden anhaltender Kick. Die beiden Franzosen waren im Besitz erheblicher Mengen dieser Droge, als ihre verstümmelten Leichen gefunden wurden. Sexgierige Junkies auf der Suche nach Stoff? Sind die beiden mit den diversen Dealerclustern aus Bengalen, Bangladesh und Myanmar aneinander geraten?
Schon befinden sich K. und A. bei ihren Ermittlungen selbst im Fadenkreuz der Mafiagruppierungen – und ihr Job wird immer brenzliger, die verschlungenen Pfade in diesem anarchischen Dschungel aus Menschen undurchsichtiger. Als sie einem ehemaligen buddhistsichen Mönch aus Myanmar namens Ndoc zu nahe kommen, der in Lindwurm VII als Großdealer für Propo tätig ist, werden ihnen selbst die Drogen verabreicht. K. und A. finden sich in einem Taumel sexueller Erregungen und Ausschweifungen wieder, nicht in der Lage zu wissen oder zu steuern, wer über sie herfällt und wen sie zur Lustbefriedigung benutzen… Als sie wieder zu Bewusstsein kommen, empfinden beide Horror und Scham … denn eindeutig sind die beiden Cops auch übereinander hergefallen.
Dann aber wendet sich nach Monaten der Fall: Die Cops stoßen auf eine Organisation von einflussreichen Männern und Frauen, die sich aus dem Reservoir der Überflutungsflüchtlinge bedienen zu können glauben: im „besten“ Falle sind es kinderlose Millionärs-Paare, die sich auf diese Weise Nachwuchs beschaffen (und auch noch einbilden, damit ein gutes Werk zu tun), im schlimmsten Falle aber sind es Anhänger des Inhumanismus (diese immer größer werdende Geistesströmung, auch Inhums genannt), die „Menschenmaterial“ brauchen – für welche Gründe auch immer.
Die beiden getöteten Franzosen waren seit Monaten im Auftrag dieser Organisation unterwegs, in den Lagern Lindwurm VI und VII – und handelten den neu angekommenen Habenichtsen ihre Kinder ab – oder, wenn man nicht handelseinig wurde, raubten sie diese einfach. Weil es ja eh in dem Chaos niemandem auffallen würde …
K. dachte, er hätte bereits alles erlebt. Aber auch er ist über diese Barbarei mitten im immer noch halbwegs zivilisierten Kerneuropa entsetzt – und über den stoischen Gleichmut irritiert, mit dem seine Partnerin diese brutale Wendung des Falles einfach akzeptiert. Statt Betroffenheit zu zeigen nimmt sie sofort Witterung auf, um der Organisation das Handwerk legen zu können. Allmählich wird dieser „Klon“ ihm unheimlich. Ist sie wirklich ein Mensch?
Es stellt sich heraus, dass Yves G. und Anouk L. zuletzt bei einem Angehörigen des dealenden Mafia-Mönches Ndoc tätig waren. Die beiden Cleaner lagen also mit ihrem ersten Verdacht nicht vollkommen daneben. Zwar ging es bei dem brutalen Doppelmord nicht um Drogen, wohl aber hat der Drogenpate aus Myanmar den Doppelmord veranlasst, weil er es aus „ethischen Gründen“ nicht dulden konnte, dass eine andere Organisation „seinen Leuten“ die Kinder wegnimmt.
Als K. und A. zur Verhaftung von Ndoc schreiten wollen, eskaliert die Situation dramatisch… Trotz massiver Verstärkung von Spezialeinheiten und Drohnen gelingt dem Mönch die Flucht – die Polizisten geraten in einen heftigen Schusswechsel … Und plötzlich steht ein Teil des Lagers in Brand. Das Höllenlager verwandelt sich in eine wirkliche Hölle, der Brand breitet sich unkontrolliert aus, fordert etliche Tote.
K. entkommt dieser Hölle. Lange weiß er nicht, ob seine Partnerin es auch geschafft hat. Ihre Ermittlungen haben diese Katastrophe zur Folge gehabt – ohne in geringster Weise einen Erfolg auf der Habenseite verzeichnen zu können. Der Mörder – auf der Flucht. Die Hintermänner und -frauen der monströsen Menschenhändlerorganisation – unbekannt. K. wird beurlaubt. Man gibt ihm die Schuld an dem Desaster, das ist ihm klar.
K. hockt in seiner Münchner Wohnung und trinkt Derrick in Mengen. Depressionen nagen an ihm. Er denkt daran, den Job ganz hinzuwerfen. Er starrt in die plärrende Cloud, die News und Comments rauschen durch ihn hindurch: Brandkatastrophe im oberbayerischen Lager Lindwurm VII – Kanzlerin Nene Kühnert kündigt Rücktritt an – Parteitag der Identitären in Wiesbaden – Gänzlich emissionsfreie und klimaneutrale Kuh im Labor in Montreal entwickelt – Spektakuläre Flucht der mysteriösen Top-Terroristin Malabona, der ehemalige Parlamentarier Ivo Teske taucht in die Illegalität ab – Bremerhaven vernichtet––
K. schaltet ab. Trinkt.
Da steht seine Partnerin in der Wohnung. Sie hat überlebt. Aber nicht nur das. Sie hat einen „Gefangenen“ gemacht. Den Mönch Ndoc. Sie konnte ihn auf der Flucht im Gewimmel des Feuers von seinen Helfern isolieren und in ihre Gewalt bringen. Sie allein. Sie hat ihn bereits vernommen, sichtlich nicht auf die sanfte Weise. Sie weiß nun, dass Ndoc vor dem Doppelmord die beiden Opfer ausgefragt hatte. Diese hatten ihm eine Namensliste ihrer Auftraggeber gegeben, bevor sie starben. Und die ist nun in ihrem Besitz. „Es geht weiter, Benny. Wir kriegen diese Schweine. Alle.“ Sagt A.
Benny K. nickt, studiert seine Partnerin.
Er hat plötzlich Angst vor ihr.