Eine Suche von Karim Wulff.
„Die ‚Borussia‘ ist eine geduldige Frau, findest du nicht, sie steht nun schon seit über tausend Jahr‘ im Park herum, hingestellt, nicht abgeholt. Naja, und ich bin das auch. Denn ich suche hier einen Philosophen, einen wahrheitslieben Mann.“
Mit diesem Text begann mein Weg zum „Sokrates vom Preußenpark“. Ich hatte in einem etwas weniger besuchten Wahrstrom von ihm gehört. Es heißt, er wäre tagsüber praktisch immer vor Ort, helfe den Leuten, Antworten auf private oder auch die ganz großen Fragen zu finden, wobei er seine sokratische Methode nutzt. Ein echtes Erlebnis, eine wahre Zeitreise, sagen manche. Super für den DIDIMOS-Erstdrop, dachte ich mir. Beim Konspi-Treffen schlug die Begeisterung der anderen Mossas hoch. Also machte ich mich auf den Weg zum Preußenpark. Klar hatte ich ein Problem: Sokrates lehnt Aufnahmen ab. Kein Bild. Wie ihn ausfindig machen? „Wer hingeht, der findet“, hieß es im Strom. Um dem Zufall auf die Sprünge zu helfen, zog ich die Toga vom letzten Kostümmob an. Ist thematisch passend, und es machte mich etwas auffälliger, was die Gegend verlangt. OKOK, vielleicht waren die Kunstblutflecken auf der Toga etwas unpassend. (Vielleicht auch nicht.) Jedenfalls, die meisten Leute ignorierten mich.
Im Preußenpark, im pornsten Teil der Sta , laufen eben zu viele Cosser und Reich-und-Schrägs rum. Da knutschten zwei entgenderte Syndicatz, dort führte ein Heidigirl ihren Badboy an der langen Leine spazieren, weiter sah ich mindestens zwei Spiegelpaare (so 40er!). Alle ignorierten einander weitgehend, hofften auf Aufnahmen, und kein Philosoph weit und breit. OK, ich musste nachfragen. Zuerst wollte ich es bei der Distanza des Parks versuchen. Die eilte bei meiner Annäherung nervös in die andere Richtung davon. Also versuchte ich es mit einem älteren Mann, der sich im Preußenkostüm, mit offener Jacke, darunter sah man alterstypisch vieltätowierte, runzelige Haut, auf einer Bank neben der Borussia-Statue sonnte. Ich war etwas schüchtern, Fremde ansprechen ist nicht ganz mein Ding, reimte mir unterwegs was zusammen und sagte oben aufgeführten Text auf.
Zuerst klärte der Mann mich über meinen Irrtum auf. Die Borussia-Statue sei nicht das Original (steht im Museum). OK, interessant. Sie symbolisiere Preußen und sei ein minderes Werk eines einst bekannten, aber belanglosen Biodeutschkünstlers. Aha. Preußen hätte es vor 1000 Jahren auch noch nicht gegeben, die Kopie stehe erst seit 1981 hier. „Auch schon lange her,“ sagte ich, um etwas zu sticheln, ob er damals dabei gewesen sei? Nein, meinte er, aber wenn, er hätte dagegen protestiert. Preußen sei damals sowas wie ein Zweitname für Militarismus gewesen, ein Geht-Gar-Nicht, wie heute Autofahren. Dann fragte er, ob ich eine Frage hätte, er sei der gesuchte Sokrates.
Das hatte ich nicht erwartet. Ich gab mich als Reporter zu erkennen, meinte, ich wolle die Wahrheit über den „Sokrates vom Preußenpark“ recherchieren. Sokrates lächelte, knöpfte sich langsam die Uniformjacke zu, stand mühsam auf und fragte, sich gegen alle Sitte bei mir unterhakend, wie meine Recherchen denn so liefen.
„Bisher denke ich: Sokrates ist ein etwas wunderlicher älterer Mann, der sich gut in der Geschichte auskennt“, sagte ich. Er fragte, was ich eigentlich suche, und betonte dabei das „eigentlich“.
„Mich hat ein Wahrstrom hergelockt. Es heißt, du führst die Leute zur Erkenntnis. Würdest du deine sokratische Methode auf mich anwenden?“ Sokrates lächelte wieder, nickte und meinte, er sei etwas durstig. Ich bemerkte schwarze Flammen, die um seinen Hals herum tätowiert waren und so praktisch aus seinem Preußenfrack herausschlugen. Darüber schwebte sein Grinsen. Ich bot ihm an, uns ein Getränk zu besorgen. Sokrates zog mich, fast so eilig wie die Distanza vorhin entschwunden war, zu einem nahen Kiosk und bestellte zwei „Derrick“. „Unsere Hausmarke“, wie er erklärt.
„Also dann“, sagte er nach einem kräftigen Schluck. „Nun setzen wir uns unter diese Pappel dort und wollen uns unterhalten. Komm. Der Wahrstrom sagte dir, du würdest hier Sokrates treffen, nicht?“
„Ja, deswegen bin ich hier.“
„Aber du hast ihn nicht getroffen, das erscheint augenfällig, oder sage ich nicht wahres?“
„Aber du bist doch hier?“
„Du meinst also, ich sei Sokrates?“
„Das hast du doch gesagt. Du bist der Sokrates vom Preußenpark.“
„Ah, gut, nun definierst du mich präziser, oder deine Vorstellung von mir, ist aber trotzdem falsch. Ein Schleier vor der Wirklichkeit, ein Schatten an der Wand. Oder gibt es beispielsweise einen Sokrates vom Preußenpark, und einen anderen vom Volkspark Friedrichshain, und vielleicht auch noch einen im Reichstag oder so, der den Kanzlerz hilft, Gesetze in die Welt zu bringen? Was bedeutet das dann? Meinst du vielleicht, könnte das sein, ‚Sokrates‘ sei ein allgemeines Prinzip?“
„Also, klar, ich denke nicht, du wärst …“
„Sieh da, dir kann man nichts verbergen. Denn ich weiß, ich bin nicht der, an den du denkst, wenn du an mich denkst. Und du nun auch. Ich bin also ein anderer. Und dieser andere kann dir nun helfen, deine Wahrheit zu finden, oder gar die Wahrheit im Allgemeinen, denn beide Aspekte wirst du wohl im Wahrstrom verdusselt haben, was? Haaaahaahaaa, und zum Wohle, das wollte ich schon immer mal einem von euch Wahris sagen … Aber nun. Du erwähntest zuvor meine sokratische Methode?“
„Ja, richtig, also, wie hilfst du den Leuten dabei …“
„Wieso meinst du, ich würde den Leuten helfen? Tat das dieser Sokrates, den du in mir siehst? Nun, vielleicht solltest du mir ihn, also deine Vorstellung von ihm, und seine Methode, also deine Vorstellung dieser Methode, etwas näher beschreiben. Aber einen Moment, den Geist zu locken braucht es Stimme, und meine Kehle ist doch wieder etwas trocken …“
Ich eilte mit den geleerten Humpen los und holte uns noch zwei „Derrick“ (preislich für die Menge echt OK, schmeckt gut und kühlt, weil viel Eis), auch, da mir das Zeit zum Nachdenken und zum Aufrufen entsprechender Infos in meiner Datenbrille gab. Zurück bei der Pappel sah ich, wie ‚Sokrates‘ sich den Kopf mit einer Jute-Einkaufstasche der Bio-Import-Kette „Ariston“ bedeckte. Die Sonne brannte. Er reichte mir auch eine.
„Also: Sokrates war ein für das abendländische Denken grundlegender griechischer Philosoph …“
„Schalt das Ding ab.“
„Was?“
„Naja, deine Externdenke. Was ist deine Phantasie? Irgendwas da außerhalb der Brille? Deine Geschichte zu Sokrates nebst Methode, wie wäre es damit? Komm, setz das Ding ab. Echt, eine eigene Version der Welt macht Gespräche interessanter. Ohne jetzt Fakten und so dissen zu wollen. Und ich beiße nicht, wenn du was abweichendes sagst, außer … Oh, und weisst du, was tote Philosophen sind?“
„Ah… grundlegende …“
„Tod. Zum Wohle.“
Ich nahm die Brille ab.
„OK. Ich nehme dann, das ist deine Methode? Also. Sokrates war ein Philosoph, der Platon kannte. Er meinte, er wisse, dass er nichts wisse. Er trug Sandalen … hatte einen weißen Wallebart … Glatzkopf. Seine Methode war, naja, er hat mit den Leuten geredet und Antworten aus ihnen herausgeleiert, also sie zur Einsicht … naja, gebracht. Meist hübsche Jungs, die waren damals ja Androzentrisch, die Griechen. Die männlichen. Und dann hat man ihn umgebracht, also der Staat oder die Stadt Athen oder so, weil er eben fortschrittlich war. Mit einem Schirlingsbecher. Das war’s so etwa.“
Sokrates hatte seinen Humpen während meines Texts geleert. Nun trommelte er ihn sanft gegen seinen gar nicht kahlen Schädel.
„Naja, nicht die feine Art. Dann lieber mit Inhalt, was?“, sagte er, und ich holte noch zwei „Hausmarke“.
„Wenn du mich fragst“, meinte der Mann im Preußenkostüm, während er seinen ‘Derrick’ entgegennahm, „– und sehr zum Wohle, Schätzeken – alles rattige Augenwischerei und so, und auch …“
„OK, willst du das echt austrinken?“
„So jung treffen wir uns nicht wieder, wie nenn ick dir eigentlich, Alki… bierdies, oder nich?“ (kichert)
„Karim. Übrigens, warum trägst du eine Uniform?“
„Aha. Siehst du, es wirkt. Ich wirke. mein Charme, hoffe ich doch. Deine erste intelligente Bemerkung heute. Und interessiert. Bravo. Und hoch die Tassen. Also gut. Ich bin Touribelustiger. Warum? Meinst du, man kann von dem Geld, dass man als Rentner kriegt, hier leben? Neeneenee. Also spiele ich den großen Fritz, mache hier und da n Witz. Das war bis gerade eben. Und dann sitze ich hier und schaue die Welt.“
„Die …“
„Moment. Das ist jetzt mein Monolog. Es überkommt mich mächtig der Pappelgeist. Ich schaue die Welt. Ist nicht doll. Aber, also, das Ding da drin, mein Ich, mein Verstand, mein Sinn, der schaut hin. Und das schlaue Schauen gibt einem so ein wohlig warmes Gefühl, als stünde man über dem kalten Abgrund, auf den man zu rollt, allein oder im Janusgesicht . Also, du stellst dir das bildlich vor, ja? Und, ehrlich jetzt, wenn ich dann darüber rede, oder auch von der Seele und dem Soundso, dann gibt’s ‘Derrick’ dazu. Und der versüßt nicht nur mir den Abend, sondern lässt auch die Gemeinkasse klingeln.“
„Die …“
„Na, hier drüben im Haus ‚Abendglück‘, da sind wir alle keine jungen Dinger mehr. Gemeinsam betreiben wir den Kiosk, laut Grundsicherungssonnerundso ist sowas bis zum Jahresumsatz von 30.000 Florin für Posterwerbskollektive gar steuerfrei. Keine schlechte Idee, was, war aber nicht meine, meine nein, die war es nicht. Übrigens, weißt, hm, du, also, was für Soki Ideen waren, oder wars Pla-ti-Tron, nanunja … Und ach übrigens, die Kehle fordert Tribut …“ Irgendwo auf dem Weg zum Kiosk ging bei mir das Backup aus. Aber ich schaffte es nach Hause. Irgendwie.
Die Vorstellung auf dem nächsten Treffen war ein voller Erfolg, mein Text wurde gelobt. Dann kam der Vorschlag hoch, man solle die Ansichten des „Sokrates vom Preußenpark“ kuratiert in den Didimos-Pod aufnehmen. Nach den üblichen Buhrufen für das Wort „kuratieren“, war dem Sprechermensch wohl so rausgerutscht, wurde die Idee angenommen. Und ich wieder in den Park gesendet, den Vorschlag zu unterbreiten. Ich machte mich gleich auf den Weg.
Die Szene glich weitgehend der von meinem letzten Besuch. Nur sah ich keinen alten Fritz. Stattdessen lächelte mich eine ältere Frau in einer Toga an und meinte, ob ich Fragen hätte. Sie könne helfen. Sie war definitiv nicht der „Sokrates“ von gestern, aber meinen Journalisteninstinkten folgend spielte ich erst mal mit. OK. Sie hatte die alterstypischen Tätowierungen, aber sie war offensichtlich eine Bio-Frau und zudem mit asiatischem Genhintergrund, eine Verwechslung war also ausgeschlossen. Allerdings schickte auch sie mich bald zum Kiosk, „Derrick“ holen. Ich nehme an, ihr ahnt, wer mich dort mit einem feinen Lächeln begrüßte und mich dann mit zwei Lollis als Zugabe zum „Sokrates des Tages“ zurückschickte?
AB DER NÄCHSTEN DIDIMOS-AUSGABE: Die Welt, und wie sie die Sokratesse vom Preußenpark sehen.