Sie übernahmen zuerst das Licht, und zuerst in der Nacht. Die Fliegen des Sommers. Sie verdunkelten die Straßenlaternen mit ihren schwarzen Körpern, fraßen das Leuchten aus den Reklamen, gruben ihr tausendfaches Summen in die Hitze hinein. Wer nachts durch Neukölln lief, vorbei an Bars und Dens und Spätis, an Nachtschwärmern und Menschenangeboten, hörte neben dem tiefen Seufzen der Joycommunity das Rauschen von Milliarden Flügeln, das Rascheln sich aneinanderreibender Insektenkörper, den Sound eines unbekannten, neuen Lebens. Eines Lebens neben dem Leben. Neu, gleichgültig, massenhaft erfüllte es jeden Winkel der Stadt. Jeden Winkel von Jasmins Dasein.
Sie fühlte es besonders im Treppenhaus, wo die Fenster nicht richtig schlossen und das Rieseln, Rascheln und Reiben allgegenwärtig war. Wie Rorschachbilder flossen die Schwärme über die Wände, nicht nur hier im Block, überall. Klatschte sie in die Hand, flogen die Invasoren auf, nur, um kurz darauf wieder irgendwo zu landen, auf kahlen Wänden oder Kunsttainment, wie Asche, wie die Atomschatten Hiroshimas. Sie legten sich wie ein Schmutzfilm über die breiten Fensterfronten des Nachbarhauses, verbargen, was die Besitzer dort sonst gerne zeigten. “Jetzt kommt der Schwarm der Natur und frisst den Kadaver unserer Stadt“, sagten Jasmins Nachbarn. Nicht die aus dem Haus mit den Fensterfronten. Die Seherbans aus dem fünften Stock, dem über Jasmin, waren eine seltsame Familie, Urberliner, vom typischen schwarzen Humor besessen, und vom massiven Shisha-Konsum, wobei sie Erdbeer-Joy massiv bevorzugten. Das stellte sich als Glücksfall heraus, denn das Einzige, was die Fliegen nicht ertragen konnten, war Erdbeer-Joydampf. Dass Joy illegal war, interessierte die Seherbans wenig. Sie zuckten mit den Schultern und erdampften sich, einem rigiden Zeitplan folgend, eine fliegenfreie Wohnung. “Wir Sehers”, sagten sie gerne, beispielsweise bei Zufallsbegegnungen im Flur, “ham halt mehr Grips als so’n haramses Schwarmgedönse.”
Aber auch für Jasmin hatte die Invasion des “Schwarmgedönses” keine große Bedeutung. Besser gesagt: Sie nahm sie nicht einmal stark genug wahr, um sich bedroht zu fühlen. Die kleinen schwarzen Wesen, die sie umschwirrten und zum Sinnbild des Verfalls der Stadt geworden waren, waren nur ein weiteres Element einer langen Liste an Unannehmlichkeiten, die Jasmins Gegenwart ausmachten, und die sie ignorierte. Sie ernährte sich weiter von Sonderangeboten, trank zu viel schlechten Wein, schaffte es nicht, ihre Wohnung in einen vorzeigbaren Zustand zu bringen. Oder eine Idee zu produzieren, wie sie zu Geld kommen könnte, fühlte sich einsam und körperlich unerfüllt, hörte brav auf die Stimme, die ihr sagte, dass sie da nichts mehr ändern könnte. “Ich bin jetzt 50 Jahre alt und unterzertifiziert”, sagte sie zu Anna. Es war halb scherzhaft gemeint. Eigentlich wollte sie mit Anna ein wenig über die Welt herziehen, oder über die Fliegenplage. Spaß haben. Menschlichen Kontakt. Anna Seherban war die einzige Person, die sie als Freundin bezeichnete. Es war für Jasmin, aufgrund der ihr gegen die allgegenwärtige Depression verschriebenen Pillen, schwierig, überhaupt viel zu empfinden. Sie wusste das, und es deprimierte sie noch mehr, aber sie nahm die Medikamente trotzdem. Denn die dumpfe Leere des Inneren war leichter zu ertragen als der Sturm, der früher in ihr tobte. “Unterzertifiziert”, wiederholte sie, als würde sie jetzt erst verstehen, was sie gesagt hatte. Die Fliegen waren müde geworden, waberten in träger Prozession um ihre Stühle herum. Manche stürzten von den Bücherbergen entlang der Wände, nur um sich kurz vor dem von Krimskrams bedeckten Boden zu fangen und in der Prozessionsmasse aufzugehen. Jasmin scheuchte einen besonders lästigen Trupp Fliegen von ihren Beinen weg.
“Da biste selber schuld“, sagte Anna. Sie machte eine Pause vom Joydampf, war aber noch erotisch-aggressiv aufgeladen. Ein wenig. Das energetische Seufzen ihres Mannes, der sich im Dampfdienst zur Erdbeerexstase hocharbeitete, drang zu ihnen herab. “Hättst dich rechtzeitig reinhängen sollen. Wie mein Jojo und ich. Was ein Kerl. Dampft wie ne Eins. Aber mach dir nix draus. Solltest wirklich Joy probieren. Vertreibt die Plage.”
“Na ja”, sagte Jasmin. Sie mochte Anna und freute sich, Gesellschaft zu haben. Nicht allein zu sein, mit ihren Gedanken, die schlimmer waren als die Fliegen. Gleichzeitig war sie genervt, fühlte sich unterlegen, da sie weder von Mieteinnahmen leben konnte, wie die Seherbans, noch Street Cred hatte, wie die Seherbans, oder ein Drogen- und Sexleben, wie die Seherbans. Aber trotzdem. Immerhin kam Anna zu ihr, auch wenn sie meistens über sich sprach, oder darüber, warum diese oder jene Identgruppe dumm ist. Das mochte Jasmin nicht, aber sie mochte es, dass Anna ihre Kuchen aß. Ihre Kuchen waren sehr beliebt.
“Nimm noch ein Stück”, sagte Jasmin, und Anna nickte, schnitt sich ein großzügiges Dreieck Zitronentart ab, atmete sanft auf den Kuchen aus, was die dort wimmelnden Fliegen fliehen ließ. “Joy rules”, sagte Anna. “Hat meinereiner schon dieser Malaballa gesagt. Dampf dich glücklich.” Sie schenkte Jasmin ein strahlendes Lächeln, genoss einen Bissen und sagte: “Warum holste dir nicht ’ne Zertifizierung?”
“Na ja. Macht doch keinen Unterschied. Ü 30.”
“Na ja, hast recht. Lass den Aufriss. Carpe diem. Iss alles wegen dem Klimagewurbel”, sagte Anna. “Jetzt ham wa die Fliegen in Neukölln. Egalito. Nee nee, ihr habt Schuld, your Generation. Vor 30, da war noch Zeit!”
“Hey”, sagte Jasmin, vorsichtig. Sie versuchte, etwas aus sich herauszukommen, nicht jede Schuld anzunehmen, wollte Anna, ihre einzige Freundin, aber auch nicht verärgern. “Du bist nur drei Jahre jünger als ich. Du weißt, wie das war. Wir sind …”
“Drei Jahre”, sagte Anna, sich ein Stück Kuchen in den Mund schiebend, “sind eine lange Zeit. Wärste mal weniger umme Welt geflogen!”
“Ist der Kuchen gut?”
“Sehr”, sagte Anna, kauend. “Solltest n Laden aufmachen. Ernst. Hasts echt drauf. Aber lenk nich ab. Wärste mal weniger umme Welt geflogen.”
“Ich glaube”, sagte Jasmin, mit den Armen wedelnd einen Schwarm Fliegen von ihrem Gesicht vertreibend, “du bist vielleicht sogar eher mehr als ich geflogen. Abenteuer, Urlaub, und so. Du hattest Mut. Ich war nie so richtig reich …”
“Ich auch nich, also vor Jojo”, sagte Anna. “Aber egal, bei mir war’s schon vorbei. Vonwegen Klimaziel. Jedenfalls, jetzt ists zu spät.”
Jasmin nahm ihren ganzen Mut zusammen; trotz der Depressionen und der Pillenleere in ihr, obwohl sie sich falsch behandelt und unterwürfig fühlte, sagte sie: “Es ist nie zu spät …”
Anna lächelte. Das war aber auch schon das Ende der Unterhaltung, weil Jojo sie nach oben holte. Zum Abendessen und zum Joy-Konsum. Jasmin gab ihm ein Stück Kuchen mit. Dann war sie wieder allein mit den Fliegen, die auf ihren Wänden träge wechselnde Figuren tanzten. Sie war erschöpft, machte den Laptop an, aktivierte einen alten Stream. Eine Welt ohne Fliegen und Klimakrise. Der Freunde und der Reisen und der Abenteuer. Warum hatte sie das nicht … Wenn nur die blöden Insekten nicht immer auf dem Display landen würden. Sie seufzte, pausierte die Wiedergabe, zog sich in ihr Bett unter dem alten Moskitonetz zurück und hoffte, der nächste Tag würde besser werden. Außerhalb des Netzes summten die Fliegen weiter, leisteten der entschlummernden Jasmin Gesellschaft.