Heyda.
Mein Name ist Benny Khatab. Ich lebe nun schon mehrere Monate in Haven. In den Nachrichten wird viel Punk verbreitet, Assig wären wir hier oder krass faul oder so. Deswegen will ich von meiner Zeit hier erzählen.
Ich war mal Cleaner. Dann starb meine Mama. Ich meine, sie hat viel für mich gemacht, hat mich in Sicherheit gebracht, aufgezogen. Sie wurde krank und keiner konnte ihr helfen, ich war für sie da. Das war irgendwie mein Leben, und irgendwie bin ich Cleaner geworden, aber als sie weg war, weg wie ein kühler Hauch auf meiner Wange, weg auch von dem Leid, da war ich auch weg. Weg von dem, was eben muss, von den Plusplus Terminen pro Tag, vom hierhin und dahin und vom Regeln durchdrücken und so. Sie war weg und ich heulte und ich war, ja ist so, irgendwo auch frei. Verzeih, Mama, aber irgendwie war meine Schuldigkeit beglichen. Und ich war auch leer, so ohne dich, die du mich mit Not und Sorge und versteckter Zärtlichkeit erfülltest. Frei. Und warum sollte ich da noch Cleaner sein?
Mein letzter Job war eh ein Desaster: jawohl, der große Feuerzauber in den Lindwurm-Lagern, die Flucht des Propo-Dealers und Massenmörders Ndoc, die ganze Scheiße da… Jeder hat davon gehört und sich angemessen gegruselt. Ich hatte eine Partnerin, ich glaube, ne Künstliche, die hat alleine weitergemacht, und sie ist noch dabei, mitten in der Hölle. Für mich aber war und ist Schluss.
Ich grübelte, und da kam ein Ruf. Ich sollte nach Sellstedt, Einsatztruppe. Bereitstehen, falls was gemacht werden muss. Ich wusste nicht, was ich will, also bin ich erstmal hin. Die gaben mir Befehle und Bestpractices und die üblichen Schweigeformulare und so. Dann hast du einen Tag Zeit, alles durchzulesen, bevor du einreichst, und ich wollte. Ich saß am Abend vor meiner Containerkaserne rum und las den Text durch. Ich bin dann einfach losgegangen. Spazieren. Über die Felder. Damals gabs noch keine Grenze. Es nahm mich wer mit. Ich fuhr in Haven ein. Ruinen hier, Ruinen da. Sturmschäden. Zelte. Ich dachte, was will ich hier?
Die Frau, die mich mitgenommen hatte, ihr Transport war voller Lebensmittel. Damals war die Biofabrik noch Schrott, das wurde gebraucht. Wir kamen an so ne Verteilerstelle, da half ich auspacken, und einer fragte, will ich bleiben?, ich sagte Ja, ohne Ahnung, warum. Und einer fragte, was kannst du, wir brauchen alle Hände. Ich sagte, ich war mal Cleaner. Die sahen mich groß an, dann lächelte einer. Cleaner brauchen wir nicht, aber Helfer. Alltagshelfer. Freunde. Schlichter. Es gibt viel Streit. Und ich sagte, dann mach ich das. Und so wurde ich der erste Bürgerhelfer, so nennen die mich und die anderen jetzt. Ich ging rum und brachte Streithähnen bei, dass sie sich helfen müssen. Eigentlich begann ich zu reden. Wo ich vorher Regeln durchsetzte, redete ich. Und die Leute redeten mit mir. Wo zu wenig da war, half ich den Leuten beim Teilen, gab, von was ich hatte. Und wisst ihr was? Ich bekam, irgendwann, Sachen zurück. Und ich merkte, ich mochte meinen Job, und was ich hier tat, das war irgendwie schon immer in mir. Ich aß mit den anderen, und redete, und irgendwann heulte ich und erzählte allen von meiner Mutter, viel Gutes, aber auch die schlechten Sachen, denn es ist nie alles gut. Aber gut ist es, zu reden. Das ist ein Weg ganz Sonne. Und ich las, denn da gab es noch viele Bücher in einer Bibliothek, und ich half, und hämmerte und baute, denn ich bin gut mit meinen Händen, und die Zelte verschwanden. Ich half auch beim Wiederaufbau der Biofabrik, es gab Leute, die kannten sich damit aus, und wir erhielten Spenden von Draußen, und wisst ihr was? Meine Seele hat immer gekratzt in mir, aber in Haven hörte das irgendwie auf. Eine meinte, ich hätte die Not meiner Mutter durch die Not der Anderen ersetzt, aber das glaube ich nicht. Ich will auch sagen, ich weiß nicht, ob das hier für ewig ist. Aber ich weiß, es ist jetzt gut, und es ist gut, daran zu zweifeln.
Einmal in der Woche ist Speakers Corner, am alten Willy-Brandt-Platz, bei dem hübschen Leuchtturm. Ich gehe inzwischen immer hin. Meistens höre ich nur zu. Manchmal sage ich was. Es kommt nicht immer viel rum, aber da entwickelt sich das Herz Havens, irgendwie. Der Platz ist längst zu klein. Ich komme oft im Dhingy, nie allein, und dann schaukele ich mit den anderen auf den Wellen, Dhingy an Dhingy an Dhingy, mehr Leute als auf dem Platz sind, und höre zu, oder sage was, manchmal auch über die Rolle der Bürgerhelfer, über Rechte und Pflichten und Auslegungen, und das sind schöne Abende. Was soll ich sagen? Ich fühlte mich, immer mal wieder, irgendwo angekommen, vielleicht, weil ich jeden Tag ein Stück meiner Stadt selber hinbog. Aber warum sollte euch das interessieren?
Eines Tages wurde ich zur Biofabrik gerufen. Die lief wieder. Es gab Essen – Nährgrundlage, wasimmer, ganz wichtig für uns, denn inzwischen war die Grenze oben, die Gerichte waren eingeschaltet, die Welt regte sich über uns auf. Da waren drei Leute eingedrungen, und die schraubten da rum und wollten die Fabrik lahmlegen. Wir hatten Wachen bei der Fabrik, alles andere wäre dumm gewesen. Aber die Leute, die den Einbruch bemerkt hatten, wussten nicht, was tun. Ich kam mit Sandra hin, mit der ich gut konnte, und wir schlichen uns an. Versteckt hinter Materialstapeln, schwitzend, fanden wir die zwei Wachleute. Zwei der Eindringlinge spotteten. In ihren Händen glitzerten Schocker. Die dritte Person schraubte. „Mit zwei Schockern machen die drei Dutzend von uns fertig“, flüsterte Sandra, und sie hatte Recht. Wir hatten keine Waffen. „Wir könnten von oben Sachen auf sie werfen“, hauchte eine Wachperson. Es gab Obergänge, das wäre möglich. „Wir wollen niemanden töten“, flüsterte Sandra. Ich nickte, flüsterte in ihr Ohr, und sie schlich sich weg. Dann beruhigte ich die beiden Wachleute.
Die beiden Schocker waren direkt auf mich gerichtet. Aber ich hatte die Hände oben und sagte, sie sollten das lassen. Sie könnten mich betäuben. Töten. Und noch viele mehr. Aber nicht alle. Hinter jedem Lagerstapel hier sind fünf Leute, sagte ich, was gelogen war. Und ich sprach die Schrauberin an. Sie solle das lassen. Ob sie denn wolle, das hier alle hungern? „Ich habe meine Befehle“, sagte sie, und schraubte weiter. Die Schocker glitzerten. „Ihr kommt hier sowieso nicht raus“, sagte ich, und da sagte einer der Shocker: „Benny?“
Harkan war ein Cleaner-Kollege aus Berlin. „Was machst du hier?“, fragte er. Und ich sagte, „Was denkst du? Ich sorge hier für Sicherheit. Ich helfe den Leuten“. „Das sind Kriminelle“, sagte er, und ich weiß nicht warum, aber ich schüttelte einfach den Kopf und streckte meine Hand aus und sah ihm in die Augen. Die Schocker ignorierte ich. Da sagte die Schrauberin, sie wäre fertig. Aus den Untiefen der Steuereinheit hatte sie einen Kasten gezogen. Sie sagte, „Der blufft. Nehmt ihn mit wenn ihr wollt. Wir haben, was wir holen sollten.“
Doch dann waren sie da. Schritte. Zögerlich, viele, vielfältig. Sie kamen herein. Sandra hatte es geschafft. Hunderte von Havenern, Frauen, Männer, Kinder, alle. Sie kamen herein und standen da und die drei waren umzingelt. Ich musste kein Wort sagen. Harkan nickte und senkte seinen Schocker. Aber Schrauberin flüsterte, die drei redeten, unhörbar, dann ließ sie den Kasten fallen, zog ihren Schocker und hielt drauf. Energiestrahlen strichen über den Kasten, der dampfte, sich verformte. Ich wusste, unsere Fabrik war tot.
Die Wut im Raum war greifbar. Die drei hielten ihre Schocker hoch. Ich habe es Harkan und Sandra zu verdanken, dass nicht noch schlimmeres geschah. Sandra redete sofort auf alle ein, beruhigte die Leute. Harkan, dem ich weiter ins Auge blickte, verstand. Er legte den Schocker ab, hob die Arme. Die beiden anderen auch. Dennoch, die Wut war stark, der Wunsch nach Rache. Ich ging zu den drei Eindringlingen, rief andere dazu, mir zu helfen. Sandra sagte, wir sollten eine Speakers Corner einberufen. So geschah es.
Am Ende ließen wir die drei gehen. Es gab sehr emotionale, nicht immer gute Diskussionen. Die drei wurden persönlich angegriffen. Verständlich. Die Sprecherin sagte immer nur, „Wir hatten unsere Anweisungen.“ Verständlich, aber dumm. Dennoch. Wir ließen sie gehen, behielten ihre Schocker ein. Auch das war eine schwierige Entscheidung. Aber wir müssen uns verteidigen können. Mir fiel die Aufgabe zu, sie zu bewachen, ich habe den Schlüssel zu unserem Waffensafe. Aber das ist egal. Wir hören immer wieder, wir hätten uns zu Unrecht Eigentum angeeignet. Der zerstörte Kasten, wurde mir gesagt, war das Wertvollste hier in Haven. Für uns sowieso. Aber auch für das Unternehmen. Nun. Der Kasten wurde in deren Auftrag zerstört. Das ist sicher nicht der wichtigste Teil meiner Geschichte. Aber ich denke, ihr solltet das wissen.
Ich hatte noch ein privates Gespräch mit Harkan. Ich sagte ihm, wie ich mich in Haven fühlte. Ich fragte ihn, ob er bleiben wollte. Aber er lehnte ab. Er hat eine Frau und eine kleine Tochter. Und natürlich fühlte er sich schuldig. Ich konnte noch ein paar Gedanken anbringen. Darüber, wie falsch es ist, wenn Menschen zu weisungsgebundenen Werkzeugen werden. Vielleicht findet er eines Tages seinen eigenen Weg.