Neulich im Straßencafé: Ich steuere einen, den einzigen noch freien Platz im Schatten eines Trompetenbaumes an. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie ein anderer Gast von anderer Seite kommend ebenfalls darauf zuhält. Wir erreichen Tisch und Stuhl gleichzeitig. Was nun? Es droht der übliche Streit, Erregung, die unweigerlich schlechte Laune danach. Da schlägt mein Konkurrent vor, das Glück entscheiden zu lassen: Wir spielen Schere, Stein, Papier. Wir witzeln, haben Spaß. Er gewinnt. Ich überlasse ihm den Platz mit einem Grinsen im Gesicht.
Warum die Anekdote, wo es doch hier um neue (oder uralte?) Wege der Demokratie geht? Will ich behaupten: lasst den Zufall über die Wege der Gesellschaft entscheiden? Keineswegs. Der drohende Konflikt wurde bereits gelöst in dem Moment, in dem wir uns gemeinsam darauf geeinigt hatten, ein Spiel über den Streitgrund entscheiden zu lassen. Nicht das Spiel oder das Ergebnis ist maßgeblich, sondern die Verabredung dazu.
Wir brauchen eine neue gemeinsame gesellschaftliche Verabredung, um das Demokratiespiel weiter spielen zu können. Es ist schon ein Wunder, dass in unserem CERN die Flagge der Demokratie immer noch weht, durchlöchert, geflickt und ausgeblichen zwar, aber immerhin: wir haben unsere Insel bislang gegen Post-Putrumpism, Klimakriegsfolgen und Alphaner-Abkoppelung halbwegs verteidigt. Doch das reicht nicht. Jedefrau sieht das: Unsere muffigen Methoden, Entscheidungen herzustellen, gleichen einer Theateraufführung aus dem letzten Jahrhundert. Schwer, schwül, schwammig und ergebnislos. Konflikte werden nicht gelöst, sondern verenden in Korruption.
Woran krankt die Demokratie alten Zuschnitts? Ganz klar, an der Art der Repräsentation. Auch wenn die Parteienlandschaft sich seit 30 Jahren zersplittert und die Regierenden sich in immer groteskeren Koalitionen abmühen, bedeutet das keinen Jota Fortschritt in Sachen Partizipation des Einzelnen. Im Gegenteil, Parteien und Regierende werden nur noch als Eliteblasen wahrgenommen und großflächig abgelehnt. Zu Recht! Denn sie repräsentieren nicht mehr die Welt von heute. Immer mehr Entscheidungen werden an die künstlichen Intelligenzen ausgelagert – und dadurch koppelt sich der und die Einzelne noch klarer von der menschlichen Polis ab. (Was die „Digitalen“ bekanntlich wünschenswert finden.)
Zahllose Alternativnischen in ganz Europa, in denen sehr diverse Gesellschaftsformen auf kleiner Flamme geköchelt werden, künden von der Krise der Demokratie in Europa (und anderswo), siehe zuletzt Bremerhaven, eine Art Pariser Commune, ein Tanz auf den Trümmern des verlorenen Klimakrieges (hoffen wir nur, dass das Experiment besser endet als 1871). Auch Japans jüngster Beschluss der Abkoppelung von der Welt ( sakoku ) ist eine Reaktion auf diese Krise.
Wie also kann man all diese zentrifugalen Bewegungen bremsen und eine größere, eine verbindende Vision der Demokratie herstellen? Einfach mehr direkte Wahlen, wie es die „Liquiden“ fordern, damit jede Einzelne an allen Entscheidungen beteiligt sein kann? Ich habe meine Zweifel, denn in meinen Augen bedeutet Demokratie nicht einfach ein Wahlverfahren. Demokratie bedeutet: Partizipation. Beteiligung aller, nicht nur an den Entscheidungen, sondern am Prozess der Entscheidungsfindung.
Wie können aber alle – jeder und jede und jedes Einzelne – an den politischen Prozessen wirksam teilnehmen? Indem jedes politische Amt und jeder parlamentarische Sitz aus der gesamten Bevölkerung ausgelost wird. Jeder und Jede und Jedes Einzelne kann (politisch) alles werden, für eine gewissen begrenzte Zeit.
Wahlen von Repräsentanten werden abgeschafft. Legislative und Exekutive werden in einem bestimmten Turnus per Losverfahren zusammengestellt. Ja, auch die Spitzen des Staates, Bundeskanzler, Präsidentin, CERN-Komissionistin. Das bewährte KI-System gêmu steuert den Zufallsgenerator nur insoweit, als dass garantiert ist, dass es alle mal „erwischt“. In der Zeit der Amtsausübung wird von staatlicher Seite eine angemessene Kompensation bezahlt, und der Rückweg in den ausgeübten Beruf wird garantiert. Es gibt bei den ausgelosten Ämtern keine Unterschiede der Bezahlung.
Meine Position wird die „griechische“ genannt, weil das Losverfahren für die allererste, die attische Demokratie konstitutiv war. Zugleich lauert in dieser Bezeichnung schon der Widerspruch: Denn hat man nicht schon bei den alten weißen patriarchalischen Athenern gesehen, wie ein solches System von begabten Rednern und Charismatikern ausgenutzt und verbogen werden kann? Sind die ausgelosten Entscheider nicht doch dumme und knetbare Masse in den Händen von gewieften Experten? Wie lange ist es da noch bis zur Diktatur?
Die Gefahr ist geringer als jene, dass die heutigen Parlamentarier den Einflüsterungen der Lobbyistinnen erliegen. Denn unsere Gelosten müssen anders als die Gewählten nicht Angst davor haben, nicht wieder gewählt zu werden. Es gibt in diesem System keine Pfründe, die es zu verteidigen gilt, keine Posten, an die man sich klammern wird. Nach – sagen wir mal – zwei Jahren Amtsausübung mit hunderten von Entscheidungsprozessen und Entscheidungen ist Schluss!
Expertinnen wird es natürlich geben. Das System der Entscheidungsfindung muss runderneuert werden. Es wäre ratsam, zusätzlich zu einem übergeordneten Parlament mehrere Unterparlamente oder Panels zu errichten, die von Councils beraten werden, in denen natürlich die KI-Systeme eine angemessene Rolle spielen müssen. Diese Councils werden kontrolliert von einem – wiederum erlosten – Wächterpanel .
Niemand wird mehr sagen können: Die da oben machen was sie wollen. Denn mit diesem Vorschlag, dem „griechischen“ System der Losdemokratie, werden die da oben abgeschafft.
Erlösung durchs Los. Das ist das Spiel, das ich vorschlage.
Und übrigens, um auf die Anekdote des Anfangs zurückzukommen: Statt uns zu setzen, plauderten und scherzten wir noch ein wenig im Stehen, der Verlierer, ich, und der Gewinner, er. Und da wurde prompt ein zweiter Stuhl im Schatten frei. Wir setzten uns zusammen an den Tisch. Redeten noch zwei Stunden. Ein Freund ist gewonnen.