Ich besuche Luhan, die „antivisuelle Gemeinde“ im Norden Wuppertals im Status einer reformierten Stadt. Naja, „Stadt“. Neben und in einer Parkbucht stehen Zirkus- und Wohnwägen, dahinter folgen DIY-Gebäude, keines höher als zwei Stockwerke. Einige integrieren gepimpte Busse oder Waggons, andere sind Designerwerke. Microhomes und so. Überall glitzern Solarpanele. Straßen gibt es nicht, aber überdachte, eingegroovte Rad- und Gehwege. Nahebei sind Bulline vertäut. Die ikonischen, meist bunt bemalten Transportfahrzeuge werden beladen. Eines erinnert, rot mit weißen Punkten, an einen Marienkäfer. Die „Luhanseraner“ packen ein. Ich höre lachen. Kinder huschen im Schwarm von A nach B, wie Vogelschwärme. Warum? Ich verlasse den Bereich der Parkbucht. Es schockt die Abwesenheit jeder Information. Nichts beamt mich an, meine Brille bleibt leer, keine Preis- oder Kultinfo. Mein Komwert, bei der Parkbucht ordentlich, fällt. Echte Teilhabe an der Welt ist nicht mehr möglich, warnt mich die Anzeige. Dann sinkt mein Wert unter Null. Ich bin allein.
Die Menschen in Luhan bewegen sich sichtbar aoptimal. Keine Streckenapp weist Bestwege. Ihre Wege sind ohne Ziel. Keine Schnäppchen oder krassen Flashs, keine Politangebote, null Flirtoptionen. Einsam müssen diese Menschen sein! Nun wirken sie nicht unglücklich, wie sie dastehen, sich unterhalten. Aber wie könnte ich einsteigen? Meine Brille gibt Null Infos. Wo soll ich hin? Weiter hinein, nach Luhan …
Ich gehe als Luhaner durch, errege kein Aufsehen, finde eine Art Platz. Eine offene Fläche. Gras. Blumen. Grob in der Mitte steht in einer Badewanne eine Skulptur, die entfernt an eine Frau erinnert. Ein Sprenkler spritzt Wasser darauf. Ich gehe näher. Ein handgemaltes Schild informiert: „Monument des Tages: Kühles, wundervolles Nass!“ Die Skulptur ist aus Seife. Time-based. Weder Künstlerin noch Aufnahmepreis sind angegeben.
Es ist sonnig, die Leute sitzen ungezwungen auf Bänken und Stühlen, kaufen Getränke von Händlern. Ich spüre einen eine natürliche Coolness. Ganz angenehm. Eine Art Spannung. Passt das zu einer Stadt, die sich selbst auflöst, als Kollektiv auswandern will? Bin ich einer Falschmeldung aufgesessen? Ich spreche einen Bewohner an. Auf meine Frage fragt er, wer ich sei. Er kennt Didimos nicht, verweist mich an seine Schwester, die unweit mit Leuten plaudert.
„Didimos? Der Hobbyspace?“, meint sie. Ich kläre das mit dem Hobby auf. Immerhin kennt sie uns. Sie heißt Alice. Ich gebe zu, dass ich Luhan nicht verstehe. Im Strom trendete ein Gerücht, Luhan würde aufgegeben, die offiziellen Medien boten keine Infos. Also bin ich hier.
„Das ist übertrieben. Einige von uns wollen ‚Anders-Luhan‘ gründen. Mit mehr Selbstbestimmung. Eure Regierung und Kultur wird eben zu übergriffig.“
Übergriffig? Wir? Eines der freiesten, liberalsten Länder der Welt? In dem so etwas wie Luhan existieren darf? Ich frage Alice, ob sie schon mal anderswo war? Naher Osten, irgendwo?
„Ich war sogar ein paar Mal in Berlin. Bei den Infojunkies. Schwur, deine Symptome sind klar. Du wirkst fahrig, unsicher, blassnasig. Der Infotod droht! Schocker! Du bist out!“
Ich weise sie darauf hin, dass sie übergriffig wird. Alice entschuldigt sich. Ich frage, was an Luhan anders ist.
„Ich sage dir, was an eurer Welt anders ist, an Wuppertal, Berlin und dem ganzen Rest. Alles. Ihr seid eine Welt der Panik. Der wattigen Panik. Ihr und Anywhere. Berlin ist schon cos, das Bad im Strom ein Kick, aber oll. Ich fand da, eure Kultur macht aus allem schales Machtspiel. Selbst aus Kultur.“
Wow. Ich konfrontiere sie mit der allgemeinen Kritik an Luhan, dessen Bewohner als wenig solidarisch gelten. Als elitär-identitäre Aussteiger.
„Echt? Weil wir uns der „freiwilligen Selbstverpflichtung“ zur Einrichtung eines eurer ‘Flüchtendenzentren’ verweigern sind wir Idents? Hier leben einige Exflüchtlinge. Ganz normo. Einige kommen mit nach Anderswo. Wir sperren die Leute fürs gute Gewissen nicht weg, sondern nehmen auf, soviele geht. Übrigens voll im Rechtsrahmen. Wer bleiben will …“
„Ihr habt Flüchtende bezahlt, dass sie gehen.“
„Die Gemeinde gab Geld für Neustarts woanders. Und war in einigen Fällen glücklich, manche gehen zu sehen. Na und?“
„Ihr seid sowas wie sektisch. Und habt gegen das Flüchtendenzentrum gestimmt!“
„Weil das nicht unseren Vorstellungen entspricht. War ein anarchodemokratischer Prozess. Schau. Unsere Lokalpartei ist ein Konstrukt, um von eurem System wegzukommen und lokal unbedeutend. Wir leben in einer liquiden, lokalen Basisanarchie, die weder auf Konsum noch Kulturkonsum basiert. Wir sind offen, nehmen auf, wenn wir das für möglich halten, helfen. Zur Selbstständigkeit. Ihr steht auf Konsens, Ko-Dependenz mit Verwaltungsangebot und „die Hand, die hilft, darf fordern“. Das sind übergriffige Konzepte. Das führt zu Panik, faulen Kompromissen, Scheingerechtigkeit. Yo. Das halte ich für die Grundelemente eurer Welt. Und ihr wollt, dass wir auch so leben.“
„Ich respektiere deine Meinung, aber das stimmt nicht. Erstmal steht Didimos für Zweifel. Also, ich und die Mossas, wir sind nicht sicher, ob alles ist wie es dargestellt wird. OK, da sind wir ähnlich. Ihr aber verweigert euch freiwillig-verpflichtender Hilfshandlungen. Ihr …“
„Ist gut. Und ich haue ab, also reg dich nicht auf. Ich und andere. Manche meinen, unser Modell wird eure Welt verändern, bleiben deswegen, andere wegen Leuten. Ich junke mein Leben nicht für euch. Wir, die wir gehen, haben verstanden, wir sind nicht mit Omelas kompatibel.“
„Omelas?“
„Verzeih. So nennen wir eure Welt manchmal. Ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Was heißt Omelas?“
„Frag deine Brille. Ich muss los. Ali und ich müssen letzte Sachen packen. Wir starten heute … Ich war nur noch zum Verabschieden hier. Und … Dir viel Glück.“
Ich treibe noch ein wenig durch die Stadt, rede mit Leuten. Die meisten bleiben. Viele sind oft in Wuppertal, manche besuchen gerne Berlin. Luhan wird sich also nicht auflösen. Einer informiert mich: Das Flüchtendenzentrum wird doch gebaut. „Wie bei euch, mit Zaun und Zuteilungskontrolle und Tracker“, meint er, und zuckt mit den Schultern. Ich frage, wo ‚Anders-Luhan‘ sein wird. Keiner weiß es. Am Abend, auf dem Weg zur Parkbucht, erreiche ich wieder das Feld mit den Bullinen. Es herrscht rege Tätigkeit. Plötzlich heben die Kleinzeppeline ab, einer nach dem anderen, im Schwarm. Ich sehe Alice im Marienkäferbulli. Er steigt fast direkt an mir vorbei in die Höhe. Sie winkt. Auch ihr Freund winkt. Ich blicke ihnen nach. Es ist ein ungeordneter, langer Treck. Die Bullinen, bemalt in allen Farben des Regenbogens, ziehen in den letzten Strahlen der Sonne davon. Ob sie wissen, wohin ihre Reise geht?