Die Einführung des Begriffs “Anarchodemokratie” Anfang der 20er Jahre führte nicht zu einer Revolution, sie blieb aber auch nicht folgenlos. Er wurde diskutiert und gerne gedisst, der Begriff ist dann aber in die Gründung des Projekts Haven eingegangen, der “ersten anarchodemokratischen Republik”. Zur Erinnerung: Nach der teilweisen Zerstörung der Stadt Bremerhaven 2052 wurde der Ort von der Regierung aufgegeben, dann aber von einer Mischung aus Abenteurern, Alteingesessenen, Visionären, Künstlerinnen und Heimatlosen als autonomes Konstrukt “Haven” neu besiedelt, das aber juristisch von keiner Regge der Welt anerkannt wird. Trotzdem oder gerade deswegen wird das Experiment von vielen interessiert verfolgt – besonders, da sich das rasch in D-Land gegründete “Havener Bündnis” in der Wahl unerwartet gut geschlagen hat.
Die Havener Commune versucht, die Bildung von Eliten zu vermeiden, eine Art Utopie zu begründen, ohne in autoritäre Gesten zu verfallen. Das Prinzip der Solidarität unter Gleichen wird hochgehalten, moderne Kommunikationsoptionen dienen zur direkten Vernetzung, wobei den Fallstricken der traditionellen sozialen Medien, wie Abhängigkeit und Ausbildung von Leitpersonen, bewusst entgegengearbeitet wird. Alle Grundsatzentscheidungen basieren auf basisdemokratisch gefundenen Regeln. Auf eine Informationsphase folgt die Vorschlagsausformung, die Abstimmung erfolgt in direkter Wahl. Insofern unterscheidet sich Haven von den oft bemühten Vorläufern (Französischen Revolution, Pariser Kommune, je nach Haltung). Alle sind Mitdenker, es gibt keinen Wohlfahrtsausschuss.
Grundsätzlich darf die Anarchodemokratie als eine gesellschaftliche Organisationsform angesehen werden, die die Herrschaftsaspekte traditioneller repräsentativer Herrschaftsstrukturen zugunsten eines klar von der Basis her aufgebauten Konstrukts aufzulösen versucht. Es wird also nicht der Staat an sich abgelehnt, sondern die Entscheidungshoheit wird tatsächlich auf die Bürger übertragen. Die Havener Anarchodemokraten schreiben in einem Offtext :
“Unser Experiment wird als perfide dargestellt. Warum? Der Druck wächst von allen Seiten, wir werden sogar in eine rechte Ecke gedrängt. Unser Selbstverständnis zumindest ist anders. Ist es, weil die AD eine Evolution der parlamentarischen/indirekten Demokratie darstellt? Weil sie eine mögliche neue Form politisch-individueller Selbstwirksamkeit ist, die alte Gegensätze überwindet? Weil die Systemgewinner, um ihre Posten fürchtend, jedem Fortschritt kritisch gegenüberstehen?”
Soweit die aktuelle Situation. Ich wurde gebeten, die Grundgedanken zu erklären. Dazu gibt es kein Manifest, sondern einen Vorschlag. Anzumerken ist, dass Haven, das sich vom deutschen Staat und der Eurokernzone losgesagt hat, vom politischen Apparat als “fiktiv” angesehen wird. Das Experiment wird nicht akzeptiert, ihm werden eher Steine in den Weg gelegt . Die vorgeblichen Besitzrechte Deutschlands an dem Land unter Haven werden bemüht, um diesen Ansatz des Neuen im Keim zu ersticken.
“Das bestehende System beabsichtigt, uns seine Erbschuld zu übertragen, da durch diese Schuld ein Ausscheren in die Zukunft unmöglich wird”,
so die Havener Antwort darauf.
Anarchodemokratie ist Demokratie. Oder, um einen toten Stückeschreiber (Edward Albee) zu zitieren: „Anarchie ist, wenn man Demokratie ernst nimmt“. Und was ist Demokratie? Hier eine mögliche Definition:
“Eine Art der Gemeinschaftsorganisation, in der alle gemeinsam, mit gleichem Recht und gleicher Wirksamkeit, über die Ausgestaltung der zivilisatorischen Rahmenbestimmungen entscheiden. Der von allen Bürgern gemeinsam gefundene Kompromiss.”
Das klingt überzeugend. Warum dann aus der Demokratie überhaupt die AD machen? Zunächst einmal, weil die hier gegebene Beschreibung kaum der aktuellen Realität entspricht. Die Demokratie, in der wir leben, sagt zwar, „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, allerdings wird diese Gewalt in einer Art magischem Verfahren durch die Abgabe von Stimmen an Repräsentantinnen übertragen. So bemüht sich der Staat dann, im Namen und zum Wohle der Bürgerinnen, ebendiese zu formen, zu bestrafen, zu belehren, zu beglücken, zu belügen, einzuseifen – und zur nächsten Stimmabgabe zu bringen.
Die Einwände gegen die Anarchodemokratie sind zahlreich. Kritiker meinen, direkte Demokratien müssten bei komplexen Problemen versagen – nur Spezialisten könnten etwa Infrastrukturen planen . Dabei wird übersehen, dass auch ein anarchodemokratischer Staat solche Elemente in Auftrag geben würde – der Unterschied besteht also darin, wie die Entscheidung z. B. zur Einrichtung eines Solarparks zustande kommt. In einigen Ländern sind es oft Bürgerräte, die für Politiker wenig attraktive (weil keine Wählerstimmen versprechenden) Projekte anstoßen.
Einer der großen Vorteile der Anarchodemokratie ist die Verschmelzung der Begriffe Demokratie und Anarchie, da letzterer, im aktuellen Verständnis, klar außermoralisch ist. Kein waschechter Anarchodemokrat oder Anarchist dürfte einem anderen Menschen aufgrund moralischer Vorstellungen Gewalt antun wollen – so zumindest die Hoffnung. Es dürfte hier wichtig sein, den Unterschied zwischen Anarchie und Anarchodemokratie herauszuarbeiten. Er ist gering und von umfassender Bedeutung. Die Anarchie wurde lange von Denkern der Macht, darunter der große Machiavelli, zu einem Übel erklärt – dies ist nicht verwunderlich, bedeutet sie doch die Abwesenheit der sinngebenden Führungsentität, des Herrschers oder Gottes. Anarchie ist ihrem Wesen nach antireligiös, da jede Unterwerfung dem Anarchisten fremd ist. Auch die Demokratie nach heutigem Verständnis wurde lange abgelehnt; das Volk, die weniger „freien“ (im wahrsten Sinne des Wortes) Bevölkerungsschichten hätten einfach nicht die Zeit, geeignete Ansichten zu entwickeln, seien nicht gebildet genug, kurz, nicht berufen. Dennoch hat die Demokratie sich durchgesetzt – wenn auch, mögen manche sagen, teilweise nur dem Namen nach.
Denn die deutsche Demokratie ist indirekt, parlamentarisch, technokratisch, elitär, behaupten zumindest die Havener. Und schlagen stattdessen die Anarchodemokratie vor. Diese kann verstanden werden als eine Weiterentwicklung der Demokratie, als nächster Schritt fort von zentralisierter Herrschaft, weg von der Gewalt, ohne in die Rechtlosigkeit zu verfallen. Schon Kant nannte die Anarchie „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“ (spätere Theoretiker betrachteten das Gewaltmonopol des Staats als nötig, um die Freiheit aller zu beschützen). Die AD setzt entsprechend auf das Primat des Pazifismus, was von der deutschen Regierung als naiv abgetan wird.
“Wer Freiheit durch Gewaltandrohung zu schützen vorgibt, institutionalisiert genau den Mechanismus, der bekämpft werden soll – Feuer soll mit Benzin gelöscht werden. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies kein guter Weg ist” (Havener Offtext).
In diesem Fall darf davon ausgegangen werden, dass die aktuelle Situation Havens – Euro-Soldatinnen stehen bereit, um das Experiment auf Befehl hin zu beenden, während Haven keine militärischen Möglichkeiten besitzt – die Ausformung des Textes mitgeprägt hat. Dennoch.
Pazifismus und Gewaltfreiheit werden oft als Merkmale der AD angeführt. Hier erscheint es naheliegend, dass Gewaltfreiheit durch eine weitgehende Dezentralisierung der Macht bedingt werden kann – wobei Macht zumeist die Macht einzelner Personen meint. Denn die Hinwendung zum Individualismus bedeutet keineswegs einen Schritt zum Kult des „starken Einzelnen“, sondern die Abkehr davon. Begriffe wie „Leadership“, “Führer:in” und ähnliche Machtbezeichnungen sind für Anarchodemkratinnen negativ belegt. Tatsächlich lassen sich die Grundlagen der AD durch einen altbekannten Dreisatz beschreiben: „Freiheit – Gleichheit – Recht“.
Was bedeutet das? Die Anarchodemokratie lehnt nicht den Staat ab – als Verwaltungsgebilde, das strukturelle Handlungsmöglichkeiten bietet -, sondern die bestehenden Entscheidungshoheiten. Sie fordert aber die Einführung weiterer Bürgerbeteiligungen, des Bürgervetos und weiterer Elemente der direkten Demokratie. Insofern behauptete sie auch, die gesellschaftlichen Verwerfungen bei der Umsetzung der Klimaanpassung der letzten Jahrzehnte wären in einer anarchodemokratischen Gesellschaft nicht so aufgetreten – eine der Grundlagen der AD ist, dass niemand sich entmachtet fühlt. Ich möchte hier noch den oben genannten Dreisatz im Sinne der Anarchodemokratie auflösen:
Freiheit:
Jede Einschränkung der individuellen Freiheit darf nur auf Basis eines in direkter Demokratie bestätigten Gesetzes erfolgen. Dies rüttelt nicht an den Grundfesten der Gesellschaft, da weit über 90 % der deutschen Bürger wollen, dass Mord, Diebstahl und Betrug Straftaten sind. Es muss angemerkt werden, dass auch in Haven die Komplexität dieser Themen Kopfschmerzen bereitet – weswegen verstanden wird, dass es von Vorteil ist, die in langer Arbeit entwickelten Gesetze erst einmal zu behalten, zu besprechen. Was dieses Prinzip aber tut, ist, jeder Bürgerin und jedem Bürger das absolute Recht über Körper und Lebenswandel zu geben. Die Gemeinschaft der Anarchodemokraten verspricht allen einzelnen Schutz vor Übergriffen.
Gleichheit:
Als Gemeinschaft verspricht das Prinzip der Gleichheit mehr als nur die Gleichbehandlung vor Gericht. Jede Diskriminierung wird als falsch angesehen – da jeder Einzelne die Keimzelle des Ganzen ist. Daher ist es Konsens, große Gefälle in Besitz, Einkommen und anderen Vermögensformen zu vermeiden. Bildung muss konstant und für alle kostenfrei zur Verfügung gestellt werden – ein systemisches Narrativ, das Bildungsanstrengungen zu Beginn des Erwachsenenlebens zwingend mit einer erfolgreichen Karriere verbindet, ist zu vermeiden.
Recht:
Da Recht der Kompromiss aller ist, muss es immer wieder neu ausgehandelt werden. Einmal ausgearbeitet, werden die meisten Elemente periodisch verbessert oder angepasst. Es ist sinnvoll, gewisse Prozentelemente einzuführen, sodass Änderungen an Grundlagen z. B. nur mit einer Majorität von mindestens 65 % möglich sind. Die periodische Neulegitimierung des geltenden Rechts ist ein wichtiger Teil der Anarchodemokratie. Durch dieses Verfahren bewegt sie sich fort von den moralischen Prinzipien und hin zur gelebten, politischen Kultur.
Dies waren nur einige Anmerkungen zur Anarchodemokratie. Nun gibt es viele Vorstellungen zur Gestaltung des Gemeinsamen. Die Frage, ob ich lieber einfach unter Verwaltung einer gewisse Dinge garantierenden Elite eine Karriere durchleben oder Teil des ungewissen Abenteuers eines offenen und wandelbaren Systems sein möchte, ist letztlich eine kulturelle. Abschließend möchte ich anmerken, dass mir selbst das im Begriff “Anarchodemokratie” mitschwingende Element des Paradoxen gefällt.
Denn wo etwas dem Menschen und der Menschlichkeit zuträglich sein soll, da können die Dinge nicht klar geregelt, in Stein gemeißelt oder auf eine einfache Formel beschränkt sein. Hoffentlich kann die Anarchodemokratie so auch eines der größten Probleme der Demokratie alter Ausprägung überwinden, die Systembildung, die zur Entstehung elitärer Bevölkerungsschichten führen musste. Doch dies nur am Rande. Tanzen wir in die Zukunft – nicht als Träumer, sondern als Bauleute einer demokratischen Politik, die diesen Namen verdient und darauf vertraut, dass wir alle etwas beizutragen haben. Zum Beat der Anarchodemokratie. Und nie vergessen: die konstruktive Kritik des Bestehenden ist ein Weg ganz Sonne.