Die Bilder sind immer dieselben. Samstags um den Rosa-Luxemburg-Platz herum. Sonntags quer durch Kreuzberg. Mittwochs vor Kanzleramt und Futurium, und auch sonst sieht man überall lokal die von Berliner:innen gern „Bonsai-Demos“ genannten Demokratieübungen. Stadtmobiliar. Ein paar Leute mit Transparenten, und irgendwie schafft es die Person am Mikrofon trotz jahrelanger Wiederholung mit größter Dringlichkeit in die auch im Jahr 2050 noch unterirdisch undeutliche PA was zu Faschismus, Klima oder Kapitalismus zu texten. Ja, es gibt sie noch, die Rechten und die Faschist:innen, die Leugner:innen und Zweifler:innen und Unberührbaren. Nur sieht man sie eher selten. Denn seit Jahren werden verfügbare Demoslots weitgehend von denselben Protestorganisationen belegt. Das ist nicht neu. Erklärtes Ziel der Demonovelle von 2030 war es, Radikale und Querschießer:innen von den Straßen zu drängen. Die jährliche Demomenge wurde in Berlin auf 5.000 beschränkt, die „Filibuster-Bewegung“ sah ihre Chance und buchte sich durch. Die ungeliebte rechte Seite wurde fast unsichtbar, die Filibuster zeigten sich bereit, angemessenen Bürgeranliegen wie Protesten gegen Bauprojekte oder Politikentscheidungen Platz zu geben. Zwar gelang es der sich selbst als rechtsliberal bezeichnenden Partei MMM! („Meine Meinungsfreiheit, Meine!“) Mitte der 40er eine 5-Prozent-Klausel für „Demonstrationen zu Themen am Rand der bürgerlichen Wahrnehmung“ durchzusetzen, nur wurden diese Plätze weitgehend von Kleingärtner:innen, Menschen, die Haustiere heiraten oder Tegel wieder zum Flughafen erklären wollen und anderen Berliner Urpflanzen belegt. Rechte Demos blieben und sind eine Seltenheit, haben touristischen Wert. Nun heißt es, die Filibusterei wäre staatlich gewollt gewesen. Gefragt wird: War es echter Protest, war es bürgerliches Engagement – oder bezahltes Politainment?
Natürlich kommt die Frage aus dem rechten Spektrum. Und natürlich lag die Antwort schon immer auf der Hand: Das bürgerliche Engagement wurde vom Staat gefördert, ermutigt, ermöglicht. Wie es sein soll. Ein vernünftiger Staat zieht ein vernünftiges Bürgertum heran, indem er vernünftige Rahmenbedingungen schafft. Unsinn gehört nicht in den öffentlichen Raum. Das ist aber leider nicht allen direkt verständlich. Gemeckert wird auch von Linksrechten wie den „Freigeistern“, der „Demokratie von unten“ der „Anti-Partei“. Man glaubt dem Erfolgsmodell der Bundesrepublik nicht. Die nun seit einigen Jahrzehnten gut mit dem Motto „Schuster:in, bleib bei deinen Leisten“ fährt. Klimaschutz, Mittelstand und eine Regierung der Kompetenten, das sind die Säulen unserer Gesellschaft. Wer könnte dagegen sein?
Er kann. Mein Kollege Wulff (ich habe ihn gebeten, seinen Namen nennen zu dürfen). Der meinte auf der letzten Hit-and-Run-Sitzung, ich solle etwas über die Kritik an den Filibuster-Demos verfassen. Nun gut. Eine gute Journalist:in kann zu allem etwas texten. Launig, nicht nur auf einer Seite stehend, Leser:innen Gedanken ermöglichen. Dennoch. Ich finde die Kritik unnötig, Wulff geht mir manchmal auf den Trichter. Wie gerade. Wir sind heute im gleichen Guerilla-CoW, sitzen an einem Tisch. Wir bestellen gleichzeitig Kaffee und Kuchen, und ich erzähle von meinen Problemen mit dem Thema. Er meint, ich soll es „fließen lassen“. „Denk nicht die Bewertung durch andere mit“, blubbert er. OK. Tue ich sowieso nie. Ich halte die Filibuster-Kritiker und damit auch Wulff für ewig konträre, für unverbesserliche Querdenker, Querulanten, rechte Erbsenzähler. Verlierer. Er bittet mich, ihm vorzulesen. Ich tue es. Er meint, ich würde positive und negative Belegungen mischen und sollte entweder gendern oder nicht. Seit wann ist ‚Querdenker‘ positiv? Wulff hebt eine Augenbraue. Das kann er gut. Aber ehrlich: Das sind doch nur Leute, die Ärger machen. Er nippt an seinem Kaffee und fragt, was ich zu dem Antrag sage, das volle Stimmrecht nur noch Menschen mit einem zertifizierten Bildungsgrad zuzuschreiben. Wow. Nur ein Querdenker könnte sowas fragen. Man gibt Leuten ohne Waffenschein doch auch keine Waffe in die Hand! Ich argumentiere sachlich. Leider geht mein Kaffee über die Tischkante. Die Bedienung stellt mir einen Beruhigungstee hin. Ich schiebe ihn Wulff hinüber, der den sicher bestellt hat. Mit scheinheiliger Miene meint er, ich sollte mir mal die Menschen ansehen, das Individuum respektieren. Zertifikate seien keine Garantien. Mann! Ich bin seit Jahren zahlendes Mitglied der bürgerlichen Antifa. Professor für Widerstandsrecht! In verschiedenen NGOs aktiv! Ich mag Menschen, habe Respekt, bin für Vielfalt, Multi-Kulti, Milieuschutzzonen! Dann erzählt er mir eine seiner Bla-Bla-Geschichten. Ich gebe die mal wieder. Soll ja aus dem Bauch raus schreiben. Also:
Wulffi trieb durch die Stadt, verplemperte den Tag. Sein treuer Hundeblick zog ein Menschlein an. Die Zufallsbekanntschaften unterhalten sich. Stellt sich raus, die ältere Dame, der Wulff über die Straße geholfen haben will, hat einen Sohn mit rechten Tendenzen. Sie sorgt sich. Weil der den ganzen Tag weg ist und nichts tut, keine Zertifizierung macht und so. Supermensch Wulff soll mit ihm reden. Macht er, und die verstehen sich. Kein Wunder! Die rechte Jungsocke der ‚Dame‘ meint, er hätte noch nie mit einem anderer Meinung geredet, und das sieht man. Also Wulffi sieht man das an. Die andere Meinung. Und da hat er recht, der Rechte, denn Wulffman hat die andere Meinung abonniert. Die absolut und immer andere. Des Teufels williger Advokat, aus Überzeugung. Also reden die, und Wulff findet sogar, der bildungsferne Typ wäre kein richtiger Rechter, er fühle sich nur verloren und würde eben ein Gemeinschaftsgefühl suchen, was gefährlich sei. Immerhin. Mamas Agent will ihn für irgendwas anderes interessieren, fragt ihn, was er so den ganzen Tag tut. Und dann kommt ein typischer Wulff-Text: ‚Er bot mir an, mir seinen Zeitvertreib zu zeigen, ich fühlte mich beschenkt.‘ FrauMannFrau! Die rollten in eine Immersionshalle, die Wulff nicht kannte. Zahlten, erhielten Schallschutzkopfhörer und Brille. Im Saal lächelten die Leute friedlich, Münder bewegten sich, einige applaudierten. Dann setzt Wulff die Immersionsbrille auf. Plötzlich ging die Marschmusik los, er war auf einer Demo, virtuelle Volksbegeisterung, Texte über Gemeinsamkeit und Volkssolidarität und so. Doll. Eine rechte Immo-Demo. Wulff meinte, es hätte ihn wie ein Schlag in den Magen getroffen, er meinte, er hätte „unsichtbare Demos“ gefunden. Die Welt neben der Welt, und das hätte ihm dann Angst gemacht. Jaja. Ich wette, er geht da jetzt jeden Sonntag hin. Als ich ihm gerade meinen Text vorlas und ihm sagte, was ich von seiner Meinung halte, so aus dem Bauch raus, schob er den Beruhigungstee weiter zu mir hin. Der war nun aber schon kalt.