Ich habe kürzlich meine Mütter zum ersten Mal in ihrem Alterssitz besucht, dem „Roten Kreis“ in Brandenburg. Es handelt sich um eine Designed Community. Ich nenne so etwas gerne Fantasiewelten für Rentnerinnen. Jetzt habe ich eine besucht.
Ich ging von der Station zu Fuß durch den viel zu heißen Sommertag durch die Kleinstadt, bog in eine Straße ein, die direkt zu der Einrichtung führte. Aus dieser Perspektive war der „Rote Kreis“ nur eine massive, vierstöckige Front aus Townhouses, wie sie in Berlin bei Artistbürgerinnen beliebt sind, mit großen Fenstern für die Atelierzimmer. Die Dimension überraschte in der provinziell anmutenden Gegend. Der Kreis (die Farbe war eher ein schmutziges Burgunder bis fast Violett, wahrscheinlich schnell nachgewittert, aber ziemlich einheitlich) begann am Rande einer altertümlich anmutenden Ansiedlung und fraß sich von deren Rand in den Wald hinein. Ich nahm an, dass die Fläche etwa der des „außerkreisigen“ Ortes entsprechen würde, und betrat den Conciergebereich, ein älter wirkendes Gebäude, zweistöckig, das wohl einfach in den Kreis integriert worden war.
„Zutritt nur auf Einladung und Anmeldung“, knurrte eine bullige Schutzkraft. Ich gab meinen Info hin, sah in den Bioscanner und wurde genehmigt. Deutlich freundlicher sagte die Kraft nun, die Wohneinheit meiner Mütter sei links lang. Ich fragte mich, ob hier oft unangemeldete Personen aufschlugen.
Ich trat durch die Tür in den Kreis, der drückenden Hitze entkommend. Eine sanfte, lebensbejahende Welt eröffnete sich. Vor mir lag ein Teich voller Lotusblumen, dahinter ein Wäldchen mit Sitzgelegenheiten und Pagoden. Der Kreis, das Hauptgebäude der Einrichtung, umlief das gesamte Gelände, Townhouse an Townhouse, alle vier Stockwerke hoch, alle auf der Innenseite des Kreises individuell farblich gestaltet. Im Innenbereich gab es Theater, Restaurants, Läden. Die rötlich-transparente Decke des Kreises, von einem Kollektorennetz durchzogen, war insgesamt leicht gewölbt und wabig, ruhte auf filigran ausgeführten Stützsäulen. Sie filterte das Licht zu einem warmen, den Deckenhimmel über chargierenden Orange. Das brutale Licht der Welt da draußen, meiner Welt, drang nicht hierher.
Zwischen Blumenbeeten, freundlich nickenden Anwohnerinnen und Statuen, meist modernen Werken in grellen Farben, Statuen extrovertierter Menschen, die etwas erklären oder feiern, ging ich zum Townhouse meiner Mütter. Dank einer (falschen, ergab mein Berührtest) Backsteinfassade wirkte es fast hanseatisch. Özlem öffnete und bat mich, freundlich distanziert wie immer, mit einem Wangenkuss herein. Über eine steile Treppe ging es in die Atelieretage, wo Andrea am Tisch wartet; sie grüßte mich mit einem Lächeln und einem Nicken, wies dann auf Tee, Kandis und einen akkurat aufgeschnittenen Klaben. „Selbstgemacht. Für dich“, wurde ich informiert. Ich mochte Andreas Klaben.
Wir aßen und tranken; ich brach das Anfangsschweigen, fragte nach dem „Lebensabend“ hier im „Roten Kreis“. Özlem schalt mich. Ich könnte meine Worte passender wählen. Aber ich hatte meine Frage korrekt formuliert. Im Grunde stand ich diesen „Design Communities“ zweifelhaft gegenüber. Vielleicht ablehnend. Die beiden erzählten, abwechselnd und kontrolliert, wie sie es ihr ganzes Leben trainiert hatten.
Natürlich waren meine Mütter reich, hatten erfolgreiche Biografien hinter sich; einen anderen Weg in einer dieser Communitys gab es nicht. Özlem war Klimabeauftragte in verschiedenen hochwertigen Unternehmen gewesen, Andrea hatte es in der Politik bis zur Ministerin gebracht. Sie waren kultiviert und bedacht. Aber sie beide wussten, dass ich sie dafür nicht bewunderte. Und ich verstand, sie hatten ihr ganzes Leben darauf gewartet, dass ich so werden würde, wie sie mich hatten haben wollen.
„Du hast da graue Haare an der Schläfe. Das ist zu früh. Uns wurde das anders kommuniziert“, sagte Özlem. Sie hatten die Spendergene für mich, illegal, nach Vorgaben aussuchen lassen. Ich war ein „Design Baby“. Von der Absicht her hochintelligent, gesund, dichte schwarze Locken bis zum Alterseinsatz. All das hatten sie mir „geschenkt“, wie ich oft zu hören bekommen hatte. Und nun war ich nicht nur „akademiefern“, ein nettes Wort für einen unbrauchbaren Außenseiter, sondern enttäuschte auch noch in Sachen Haarpracht.
Andrea kam schnell zum Punkt. Sie sagte, sie wollten Theremi adoptieren, die Tochter einer kürzlich verstorbenen Freundin. Theremi half den beiden zuweilen im Haushalt, sie war ja ohnehin oft hier gewesen, um ihre Mutter zu besuchen. Andrea war, obwohl sie das ungern zugab, körperlich schon ziemlich stark eingeschränkt, und auch Özlem war nicht mehr wirklich fit. Eigentlich hatten sie dazu ja Pflegekräfte gemietet, aber Theremi kam trotzdem. Sie fragte mich, was ich davon halten würde. Natürlich sagte ich, das sei ganz ihre Sache. Ich mochte Theremi, sie war in meinem Alter, fragte aber, warum sie eine Adoption wollten.
„Wir haben niemanden, der unser Erbe weiterführen wird. Theremi ist engagiert. Sie wird von unseren Kontakten profitieren, etwas, das du nicht mehr kannst. Konkret zielt unsere Frage auf den finanziellen Aspekt. Theremi ist bereit, unsere Namen anzunehmen, dafür wünscht sie sich aber, bei der Erbverteilung bevorzugt zu werden. Zwei Drittel für sie, eines für dich. Sie würde auch die Wohnung in Tirol bekommen. Sie meint, so ein Abkommen könnte auch für dich gut sein. Ich tendiere dazu, dem zuzustimmen“, sagte Andrea.
Es schossen Worte aus meinem Mund. Ich sagte, ich würde gerne auf das gesamte Erbe verzichten.
„Du reagierst, wie üblich, emotional. Es ist nicht unsere Schuld, dass du dich einer Karriere verschlossen hast. Wir haben oft genug versucht, mit dir darüber zu reden. Insofern müssen wir uns der Realität beugen. Aber du verstehst, dass dein Name und deine Zugehörigkeit zu unserer Familie dir Vorteile hätten bringen können, dies immer noch kann. Du musst diese nur endlich annehmen. Lernen, was es heißt, erwachsen zu sein. Das ist der Sinn des Ansinnens Theremins. Wir wollen das Beste für dich. Warum möchtest du unser Erbe ablehnen? Fühlst du dich in deinem männlichen Stolz gekränkt? Weil wir eine Frau neben dich stellen wollen?“
Mich überkam, wie so oft in Unterhaltungen mit meinen Müttern, eine kalte Wut. Ich fühlte mich in eine Ecke gedrängt. Da saß ich nun, den Rücken zur Sofalehne.
Mein Verhältnis zu meinen Müttern ist weder gut noch vertrauensvoll. Offen gesagt weiß ich nicht, warum sie unbedingt einen Sohn wollten – auch das hatten sie nicht dem Zufall überlassen. Aber da war ich nun. Und vielleicht bin ich unfair. Meine beiden Mütter waren, was ihre Karrieren anging, von einer großen Leidenschaft besessen. Ich sah sie also nicht unbedingt oft, aber sie bestehen noch heute darauf, dass sie immer „Qualitytime“ mit mir verbracht haben. In diesen bedeutsamen Stunden fragten sie mich aus oder ab, nahmen mich mit, um Kultur oder Community-Events zu konsumieren. Sie wollten meine Dankbarkeit sehen, meine korrekte Entwicklung. Ich hatte interessiert und offen zu sein und kann das seitdem gut spielen. All meine miesen Seiten, meine Probleme und auch meine Wut, all das bekam eher Padme mit. Für mich ist Padme auch mein Elter, auch wenn ich nicht aus ihrem Bauch gedrückt und nicht für sie gemacht wurde. Sie war immer für mich da. Natürlich wurde sie dafür fair bezahlt, wie meine Mütter immer wieder betonen, aber das ändert für mich nichts. Sie hat mich, und vielleicht ist das für mich emotional das Wichtigste, nie in eine Ecke gedrängt oder gestellt. Meine Mütter würden sagen, sie hat mich nie herausgefordert.
Padme hatte mir davon abgeraten, mein Elterhaus zu verlassen, und ich hörte auf sie. Eigentlich lebte ich dort ja auch eher mit ihr zusammen. Der Alltag mit ihr war mir sicherlich näher, auch wichtiger, als mit meinen Müttern über „relevante Dinge“ zu reden. Vielleicht bin ich eben eine einfache Seele. Und irgendwann war dann Hans da.
Hans war der Sohn von Padmes Bruder, etwas älter als ich. Er verstand sich selbst als Influencer, erhielt aber selten finanziell relevante Aufträge, also hatte er sich für den Sommer bei meinen Müttern als Gärtner verpflichtet. Padme, die den Garten zuvor (mit sporadischer Hilfe von mir) gepflegt hatte, sollte entlastet werden. Bald gingen Hans und ich zusammen aus. Ich weiß, dass es meinen Müttern gefiel, obwohl sie immer sagten, sie wären glücklich, egal, was ich machen wollte. Ich bin sicher, sie würden mir nie etwas verbieten, aber glücklich waren sie mit wenigen meiner Entscheidungen. Das trage ich ihnen wirklich nicht nach. Tatsächlich irritierte es mich, wie sehr sie mein Zusammensein mit Hans befürworteten, wie oft sie ihn einladen wollten. Auch das Lob, mit dem sie unsere Verbindung überschütteten, ging mir auf die Nerven. Ich beschloss, doch auszuziehen.
Bei Hans, der seine Studiowohnung in einem ärmlichen Viertel mit mir teilte, wurde es mir schnell eng. Nicht nur versuchte er ständig, wenn auch auf eine herrlich verständnisvolle Art, mir klarzumachen, wie viele Möglichkeiten mir meine Mütter eröffneten. Ich merkte auch, dass ich für das Zusammenleben auf engem Raum, oder einfach für enge Beziehungen, kein Talent hatte. Was da an Zärtlichkeit zwischen uns war schlief schnell ein, und so trennten wir uns. In Freundschaft, und unsere Freundschaft besteht noch immer.
Ich beschloss, nicht zu meinen Müttern zurückzukehren. Hans half mir, eine kleine Wohnung und einen Job zu finden. Vielleicht war ich, als in dieser kleinen Wohnung, in der ich noch lebe, zum ersten Mal die Tür hinter mir ins Schloss fiel und ich allein war mit einem leeren Raum voller Möglichkeiten, zum ersten Mal glücklich. Ich tanzte durch das kleine Zimmer, bis ich, herrlich heftig atmend, auf dem Boden liegend in einen bunten, wilden Traum versank.
Meine Mütter kamen nur einmal in meine Wohnung. Padme kam oft, und sie brachte immer Essen mit. Es war ein Spiel zwischen uns. Sie brachte etwas mit, ich bereitete etwas zu, wir aßen zusammen, erzählten uns von unseren Leben, und dann ging sie wieder. Manchmal kam Hans mit ihr, und oft blieb er länger, und wir betranken uns oder gingen zusammen aus.
Hans stellte mir eines Tages Sol vor, ich weiß nicht mehr, woher er sie kannte. Ich machte sofort zu. Hans neckte mich deswegen, und er behielt Recht. Ich nahm meinen Mut zusammen, und tatsächlich wurden Sol und ich ein Paar. Hans meinte, wir würden deswegen gut passen, da wir beide sehr wenig Nähe benötigten, aber dennoch immer mal wieder den Drang verspürten, mit einem anderen Körper zu spielen. Für meine Mütter war das wohl seltsam. Sie hatten von Padme gehört, dass ich eine Freundin hatte. Sicher ungewollt rutschte Andrea ein „Du wirst jetzt doch nicht binär?“ heraus. Sie hätte mich nicht schlimmer beleidigen können. Wieder stand ich da, in eine Ecke gedrängt, „herausgefordert“. Ich schlug die Tür zu und wollte meine Mütter nie wieder sehen.
Die Sache mit Sol hielt nicht lange. Auch wir sind Freunde geblieben. Sie entschied sich für einen anderen Lebensweg, für Kinder und Familie. Das fand ich nie anziehend. Vielleicht begannen wir auseinanderzudriften, als sie mich fragte, warum ich nie Informationen über den Samenspender eingeholt habe. Ich empfand das nicht nur als identitären Quatsch, sondern fühlte mich auch wieder in eine Ecke gestellt. Oder vielleicht fühlte ich in ihr das Bedürfnis nach Einordbarkeit, Sicherheit, das mich an meinen Müttern so nervte.
„Willst du immer irrelevant bleiben?“, fragte Özlem.
„Ehrlich, nein. Aber ich will meinen eigenen Weg gehen, und vielleicht führt der gar nicht an den Ort, den ihr und die Community vorgesehen habt. Nur finde ich, es ist so ziemlich alles von euch Leuten besetzt.“
„Sei nicht bitter“, sagte Andrea. „Bildungskarrieren und das Vorzeichnen von Wegen sind Teil der DNA der Erfolgsgeschichte des Menschen. Warum wehrst du dich gegen eine vernünftige Arbeitsteilung und gegen eine sinnvolle Formatierung deines Ichs? Von diesen Tendenzen hat die ganze Menschheit profitiert.“
Ich musste auflachen. Eigentlich stand die Menschheit nicht so gut da. Kriege, Umweltkatastrophen, krass fiese Flüchtlingslager, eine von Malabona als behäbig entlarvte Regierung, ich muss das nicht ausführen. Die Unzufriedenen waren für meine Mütter ja „irrelevant“. Kalte Wut saß mir in der Brust . Aber ich konnte sie runterkämpfen.
„Ich möchte nur kurz etwas sagen. Ich finde eure Welt eng. Aber das nur so dahin, und für mich, bedeutet also nix. Mir geht das ganze Zeug mit der Communität eigentlich gegen den Strich. Aber ihr seid meine Mütter, und im Grunde meines Herzens mag ich euch doch. Ich möchte einen Vorschlag machen. Ihr adoptiert Theremi, warum immer ihr das tun wollt, und was euer Erbe angeht, so erhält sie keinen größeren Teil. Falls das für euch OK ist kriegt sie gerne die Hälfte, und den Rest teilt ihr unter Hans und mir auf. Ihr wisst, Padme ist gestorben. Hans hat es auch nicht in die oberen Strata geschafft. Und ohnehin wünsche ich euch noch ein langes Leben. Ich sehe das nur als Gedankenspiel an.“
„Würdest du uns, nach den Regeln deines Gedankenspiels, vielleicht öfter besuchen, etwas mit uns unternehmen? Gerne mit Hans?“ fragte Özlem. Ich lachte wieder, aber diesmal war es ein befreites Lachen.
„Ich glaube, das könnte zu den Parametern des Gedankenspiels passen. Vielleicht gehen wir ja mal in eine Retroshow“
„Da war ich schon lange nicht mehr …“ sagte Andrea.
Als ich aus dem Haus meiner Mütter trat, begann ich, entgegen meiner ursprünglichen Absicht, eine Runde um den Zentralpark zu drehen. Ich wollte sehen, wie die Community aussah, in der meine Mütter lebten, welche Menschen mit ihnen in dieser Blase innerhalb der Welt lebten. In dieser relevanten Blase. Ich ahnte, ich würde meine Ergebnisse nicht mögen. Sicher konnte ich mir aber nicht sein.