Die letzten Meter fallen mir schwer, ich bin seit Tagen unterwegs, eine Woche bin ich durch wechselhaftes Wetter gewandert, nun erreiche ich mein Ziel. Letzte Flecken Schnee sind zu sehen, an schattigen Stellen, zwischen Steinen, um Stämme und Büsche. Doch schon strahlt zwischen den Baumwipfeln der Fernsehturm Ještěd vor, ein sich elegant verjüngender Kegel, außerirdisch, optimistisch, genial, eigen. Ideal als Ziel einer Wanderung, denke ich, aber handelt es sich wirklich um einen geeigneten Ort für das hier stattfindende Festival? Organisiert und erdacht hat das Ganze die schottische Künstlerin Anni McKinnon (es handelt sich also um eine McKinnon-Ausstellung mit Fankünstlern als Beiwerk). Finanziert wurde es von allen möglichen nationalen und europäischen Institutionen, deren Banner den Bergweg hoch hier und da von den Bäumen hängen. Prestige wird groß geschrieben. Bei meiner Ankunft in der Parkbucht frage ich mich dann aber doch, wie viele der Leute hier den Ještěd zu Fuß hochgekeucht sind. Neben E-Fahrzeugen luxuriöser Marken bemerke ich eine Pferdekutsche. Die Pferde fressen friedlich aus Kübeln, stören sich nicht am Getümmel. Ein Luftbus tümpelt ein paar Meter unter dem Gebäude an einem Luftsteg. Und auch die Besuchergondel schleicht sich die Stahlkabel lang. Aber ich wollte ja wandern. Ich klopfe meine Kleidung sauber, während mir klar wird, wie ich die Sozialkünstler von Journalisten, Geldgebern und Kuratoren unterscheiden kann. Wer zur Base gehört trägt ein Nigh-T-Shirt oder hat ein Nigh-Plakat dabei. Manche haben auch Fremdsprachenaufschriften, darunter „Das Ende ist nahe!“
„The End is Now!“ lautet der Titel des Festivals. Mehr weiß ich bei meiner Ankunft nicht. Anni McKinnon ist berühmt, hochgefördert, international, ihre Site gefeiert, „Nigh stuff“ gibt es überall zu kaufen und zu sehen. „Nigh“-Regenschirme mit der entsprechenden Aufschrift oben. Fotos von Menschen mit „Nigh“-Postern vor Schulen, Regierungsgebäuden, auf Parties und mit Promis. Selbst die Mona Lisa weist auf das nahe Ende hin. Zum 10.000ten „Nighpost“ gibt es jetzt das Festival. Eine bunte Mischung aus internationalen Fans, nach Geld aussehenden Menschen und Promis spült mich in den Empfangsraum. Klassisches, nicht zuordbares Publikum ist nicht sichtbar (obwohl auch Normals hier reinkommen würden, bis in den Empfangsraum sogar kostenlos). Ich schnappe Gesprächsfetzen auf, verstehe nicht alle Sprachen, höre aber häufig Dinge wie „fantastic“, „spannend“, „úžasný“ und natürlich „the end is nigh-gh-gh“. Dabei knabbern alle an den dargereichten Erfrischungen. Ich schlängele mich zur Rezeption. Dort wird mir ein NF-Schlüssel übergeben. Bevor ein falscher Eindruck entsteht, dies ist ein Auftragsartikel. Eine Art Zufallsgeschenk. Ich erhielt eine E-Mail von der Photon-Stiftung, die mich bat, für ein paar nicht-offizielle Verteiler meiner Wahl über das Ding zu berichten. Bezahlung nach Veröffentlichung, großzügige Spesen, Unterkunft und Zugang organisiert. Warum ich?, fragte ich mich, und sagte zu. Die Photon-Stiftung lässt sich übrigens nicht lumpen. Immerhin zwei Nächte darf ich an diesem Luxusort verbringen, mit dem Transportgeld habe ich mir nicht nur die Wanderung finanziert. Mit meinem Schlüssel wird mir ein „persönlicher Timeslot-Code für das Erlebnis“ zugeordnet. Mir bleibt eine Stunde zum Frischmachen.
Zwar sind überall im Gebäude Nigh-Elemente angebracht, ein Themensong wabert durch das Gebäude, aber mir das „Ende“ plötzlich egal. Ich öffne mich dem Ort, gehe durch eine Tür, auf der „Hotel“ steht. Eine enge Plattform, um einen Aufzugschacht windet sich eine Treppe in die Höhe. Ich nehme die Treppe.Das ganze hat was von einem Leuchtturm. An der Wand der übliche Spruch. Nach nur drei Etagen erreiche ich eine schlichte Tür, ich trete hindurch. Der Gang mit meinem Zimmer, sanft gekrümmt, hat den Charme eines alten Dampfers (ich kenne Schiffe nur aus Entertainmentangeboten, aber so stelle ich mir sowas vor). Ich betrete mein Zimmer. Tisch, Stühle, Waschbecken, Bett, Mediastation. Alles stilvoll, irgendwie wie aus einer Agentenimmo. Dahinter öffnen sich schmale Fenster auf eine weite Landschaft. Ich trete an die Fenster, bemerke, wie mich das Sehen befreit. Die Hügel rollen, statische Musik, grün und braun, darüber ein blauer Himmel mit einer intensivweißen Wolke. Ich erkenne meinen Weg, einige Stationen meiner Wanderung. Überall drehen sich Windräder. Fast am Horizont grillt die blasse Wunde eines alten Tagebaugebiets. Ich bleibe lange stehen. Aber wie es so mit der Überraschung der Schönheit ist, sie vergeht, und ich wende mich profaneren Tätigkeiten zu. Ich will duschen, bevor ich runtergehe.
Geduscht drängele mich durch die konsumierende Menge zum mit einem schwarzen Vorhang abgetrennten Eingang zum, wie ein Schild mit geschwungener Schrift informiert, „The Cabinet of Dr. McKinnon“. Ich werde hineingewunken. Ein eher kleiner improvisierter Raum, voller thematischer Objekte, zahlreiche „The End is Nigh“-Schilder stehen herum, wie Krücken in einer Kirche. Eine Dienstperson bedeutet mir mit einer Geste, meinen Schlüssel auf einen roten Scanpost zu halten, drei Treppenstufen hoch vor einem weiteren Vorhang. Der Scanpost wird grün, der Vorhang zieht auf …
… und fällt zu. Alle Geräusche ersterben mit dem Fall des Vorhangs. Ich stehe still. Nichts. Fahles Licht kommt von einer in die Wand eingelassenen Glaskugel, beleuchtet die vor mir ansteigende, knochenweiße Treppe. Die Ausstellungsetage oben ist dunkel, ein Lichtkegel, zwei Schritte entfernt, lockt. Ich tue einen Schritt weg vom Licht, genieße die Stille. Dann trete ich in den Lichtkegel. Das Licht erlischt. Meine Sinne suchen durch die Dunkelheit. Erst höre ich ein Schaben oder Schleifen, leise. Dann erkenne ich ein fahles Glimmen.
Dunkel zeichnet sich eine Welt hinter den Schlitzfenstern ab, die ich aus meinem Zimmer kenne. Bildschirme, nehme ich an. Doch diese Welt ist, obwohl in dem kargen Licht nur erahnt, öde. Verdorrte Erde ohne Vegetation, der Himmel ist von schmutzigen Wolken bedeckt, an denen die Dämmerung zerrt. Leblos. Ich gehe den Raum entlang, eine ganze Etage, rund um den Kern des Gebäudes. Überall sehe ich dieselbe leblose Welt. Sind die Formen anders? Das Bild erlischt, einen Moment. Ich sehe nicht mehr von einem hohen Berg, sondern blicke in eine leblose, dunkle Stadt hinaus. Dann beginnt das Flüstern. „Erderwärmung 7 Grad“, „Verteilungskriege“, „Atomschlag“, „Umweltzerstörung“, „Artensterben“. Der Text wurde wohl an meine Herkunft angepasst. Unter den gehauchten Worten liegt ein Kratzen oder Raunen, vielleicht rollen Maden über ein Cello. Ich gehe weiter. Das Bild erstirbt. Eine riesige Favela füllt mein Blickfeld aus. „Überbevölkerung“, „Hungersnot“, „Brutalisierung“. An einzelnen Stellen in der Dunkelheit flackern Lichter auf. Flammen. Ich erahne Kämpfe Mensch gegen Mensch, Mensch gegen Staatsgewalt. Das ganze Bild brüllt in Flammen auf, verlischt. Es bleibt ein Panorama der Asche zurück, so leblos wie am Anfang. Nur war diesmal etwas anders. Ein gefährliches Raunen, etwas elektrisches, großes, mächtig und böse, scheint da draußen zu sein, herein zu wollen. Um meine sichere Einsamkeit zu vernichten. Ich zittere, ziehe mich in die Dunkelheit zurück, weg von den Monitoren. Dann gehen die Lichter an. Meine Zeit war um. Der eigentliche Raum wurde sichtbar, die Monitore an den Fenstern. Violette Kabel laufen in Strängen über die Decke, sonst ist alles leer. Ein schöner Raum, mit Holztäfelung. Ein Signal fordert mich zum Verlassen des Raums auf. Artig gehe ich zum Ausgang.
Anni McKinnon lächelte mich an. Ich beschreibe sie nicht, da ich selbst auch nicht gerne beschrieben werde. Ein Live-Gespräch mit der Künstlerin gehört zum Erlebnis:
„I guess I get what you are saying. But I like it as it is. Having just the beginning would have been too easy … also, I got some funding from transform funds, so …“
Ich fragte, ob sie eigentlich Angst vor dem „Ende“ hätte.
„Certainly of dying. I’m megaafraid of dying. Why wouldn’t I be? But you are asking about the end of the world, aren’t you? Nah. You know, I grew up rich. No. I mean, I grew up without worries. I’m not like Photon, who had the world at her beckoning from day one. But I trust that … the world, people, society, whatever you want to call it, they or it will like me. Give. I am not afraid of the end of the world, because I guess I am an optimist. I mean, the influencers and politicians and so, they say the adaptation is coming along nicely. So no. But yes, I am interested in the esthetics of the end, in the shape of fear. And I am afraid of what people will do to the world, and to other people.“
Ich bitte um Konkretisierung.
„People are becoming more radical, more tribal. That scares me sometimes. Some because they have no choice. Some because it suits them fine, being a big part of something bigger and all that jib. Me, I have a German mother who had a Scottish father and I live global, mostly know global people, so I don’t need that, I guess. I see myself mainly as an individual, even if I sort-of need the audience to do what I do. Still. I am very afraid of all things amorphous, of big gloomy entities made up of people atoms that just want to gobble up the world, or anything that is different to them. Something like that. But ta-da and thank you for the talk, it was very, but there’s the next Nigh exit now …“
Zurück auf meinem Zimmer sehe ich auf die Landschaft, über die Hänge des Ještěd-Kammes, über Liberec auf das Lausitzer Gebirge. Bezeichnungen, die ich erst seit kurzem kenne. Ich sehe die Landschaft nun anders. Denke mir die Wirkungen des Klimawandels dazu, der vor langer Zeit begonnen hat und unsere Welt formt. Vielleicht sind die Hügel nicht so grün, wie sie noch vor einer Stunde waren. Ich bin müde und schlafe ein.
Ich erwache tief in der Nacht, oder ist es früh am Morgen? Der Horizont strahlt in Orange- und Rottönen. Darüber ein tiefes Himmelblau, das in das Schwarz des Kosmos fließt. Ich bemerke langsame Veränderungen, den Beginn des Tages, den Beginn des Lebens, denkt mein traumleichter Kopf. Dennoch bin ich deprimiert. Es ist, als würde etwas großes, dunkles in der Landschaft um mich warten, etwas, dass mich nicht will, oder nur vernichtet, unterworfen. Warum denke ich das? Lange sitze ich auf meiner Bettkante, sehe dem Sonnenaufgang zu, einer sanften Explosion der Farben, komme zu keinem Schluss. Irgendwann gehe ich hinunter. Ich freue mich auf Kaffee und Frühstück.