„Besuche uns, und verliebe dich in Spanien“, verkündete ein Ad von vor 30 Jahren, aus den Abgründen der Cloud. Der Tourismus war lange Zeit einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes im Süden. Das gilt heute nur noch bedingt. Spanien gilt als die europäische Region, die sich über die letzten Jahrzehnte den härtesten Klimaherausforderungen stellen musste. Dennoch kommen nicht wenige Touristen. Zu denen zähle ich nicht. Die Photon-Stiftung hat mich wieder angeheuert, diesmal soll ich spezifisch über das Casapueblo Artreides berichten. Wieso, das wurde mir nicht gesagt. Ich nahm den Nachtzug nach Madrid. Von dort ging es weiter nach Merída. Vor dem Bahnhof erwartete mich ein Fahrer. Er stand allein im Sonnenbrüllen, im Schatten eines breiten Parasols, den er lässig auf der Schulter balancierte, wie eine Lanze. Im Schutz meines eigenen Sonnenschirms ging ich auf ihn zu. Der Fahrer war ein junger Mann, sonnengebräunt, mit blauen Augen. Schwarzer Stoff floss um seinen Körper, ohne sichtbaren Schnitt. Er nickte nur, drehte sich um. Ich folgte ihm zum Bus.
Die Fahrt verlief schweigend, ereignislos. Die durch getönte Scheiben sichtbare Landschaft wirkte unwirklich, als ginge es über den Rücken eines runzligen, geendeten Riesen, der in der Hitze verrottete. Hinter einem Hügel wurde das Casapublo sichtbar. Schwarz, schwarzglitzernd, ein Riesenloch inmitten einer krankgelben Wüste, ein Ellipsoid. Ein Stück Designerschmuck, vergessen und fremd. Zuerst konnte ich keine Öffnungen ausmachen, keine Fenster, so erschloss sich mir auch nicht, wie viele Stockwerke es hatte. Es sind vier über der Erde, zwei darunter, für etwa 700 Menschen. Erst später bemerkte ich, dass die gesamte Oberfläche der von außen einheitlich wirkenden Struktur aus Sonnenkollektoren bestand, hinter der sich doch Fenster befanden, und verbundene Gebäude, zwischen denen es Freiräume gab. Ein Tor schwang vor uns zur Seite, die Kollektorenhülle schluckte uns.
Im Inneren wurde mein Fahrer nicht gesprächiger, aber er nahm sein Umtuch ab. Darunter trug er wenig. Shorts, ein beiges, ärmelloses Shirt, das pralle Muskeln zeigte. Fast alle Männer im Haus Artreides waren ähnlich einfach gekleidet, die Frauen trugen meist leichte Ganzkörpertogen. Die Innenräume waren mit arabischen Versatzstücken verziert; mich überraschte der Reichtum, der sich hier ausdrückte. Eigentlich galten die Casapueblos als Notlösungen. Als Klimahäuser, die den Alltag in einer immer unwirtlicher werdenden Umwelt angenehmer machten. Aber alles hier schien verschwenderisch. Frauen herdeten eine Kindergruppe durch einen geschlungenen Gang, dessen Wände Lochmuster aufwiesen. Durch die Öffnungen drang buntes Kunstlicht. Auf direkte Beleuchtung wurde verzichtet.
Wir erreichten einen offenen Bereich voller Hydropflanzen; eine Art Gewächsdom mit getöntem Glasdach, vom Kollektorengitter weiter beschattet. Auf mehreren, von Metallstegen erschlossen Ebenen wuchsen Beeren, Mangos, Avocados und mehr in Pflanzenhalterungen. Plätschern erfüllte den Raum; an einer künstlerisch gestalteten Kaskade las ich: „Zierwasser. Nicht trinken.“ Auf einer Bank erwartete mich ein Mann in seinen 50ern, mit tadelloser Haltung. Er wirkte muskulös, resolut, hätte in seiner roten Toga in einem römischen Plastipic mitwirken können. Mein Führer verbeugte sich vor ihm und sprach zum ersten Mal: „Vater“, sagte er, und zog sich zurück. Der Mann in der Toga begrüßte mich, nannte sich „Spice“, wies auf den Platz neben ihm. Ich sah ihn genauer an. Es war tatsächlich All-Spice, der Holo- und Musikstar aus den 30ern.
Spice erklärte mir ohne Umschweife Technik und Geschichte des „Sietch Atreides“, wie er die Struktur nannte. Dann führte er mich in einen unterirdischen Bereich und zeigte mir die Wasserrückgewinnungsanlage. Man plane weitere „Sietches“. Eine Gruppe visionärer Männer hätte das Projekt vor einigen Jahren erdacht, im Rahmen der Entstehung der Imazig-Religion, die hier ihr Zentrum hatte. Inspirationsquelle waren die älteren Casapueblos. Und natürlich Frank Herberts Science-Fiction-Roman „Wüstenplanet“. Ich kenne den Roman, sagte das. Nun wurde die bisher studierte Freundlichkeit meines Gegenübers fast aufrichtig. Mit kindlicher Begeisterung sprach er von Muad’Dib, seinem Idol. Spice lächelte, als er über die Kostbarkeit des Trinkwassers für die Gläubigen sprach, die er „Gerettete“ nannte.
„Wasser, Leben“, sagte er, „darf nicht allgemein verfügbar sein; man muss es sich verdienen. Daher hat Gaia, Tochter des Wassers, das Sein ist, im Moment des krank wuchernden Überflusses Sorge getragen, dass nur diejenigen ihrer Kinder überleben, die Wasser und dessen Wert schätzen. Die sich in der Wüste, dem Garten der Philosophie, ein Heim schaffen. Die ihre Angst vor der Not bezwingen. Die in der Dürre ihr Wasser mit den Geretteten teilen. Den Dankbaren“. Ich fragte ihn, ob er sich als Sozialist beschreiben würde.
Seinen Ausdruck in diesem Moment werde ich kaum mehr vergessen. Es gibt kein anderes Wort dafür als „väterlich“. Er erläuterte, dass nur eine Gemeinschaft auf der Erde gerettet, auserwählt sein kann. Der Besitz der Wahrheit, der rechten Gesinnung, sei exklusiv. „Jedoch, jedem rechtdenkenden steht es frei, sich den Geretteten anzuschließen. Denen, die mit der Welt, deren Name bald Wüste ist, in Harmonie leben, aus gnädiger Not und tiefer Einsicht“. Ich fragte, was mit den anderen werde. Mit denen, die ihr Leben nach anderen Vorstellungen gestalten wollen. Falls möglich wurde sein Gesicht noch väterlicher. „Für solche“, lächelte er, „ist es zu spät“.
Damit war das eigentliche Gespräch für ihn beendet. Er bat mich zu Tisch. Ich folgte ihm in einen großen Speisesaal, in dem viel Kommen und Gehen herrschte. Spice begrüßte einige der Anwesenden. Viele nannten ihn „Vater“. War es ein Ehrentitel? Auf meine Frage hin verneinte er. Er legte mir die Hand auf die Schulter: „Lässt du die falsche Moral der Verschwendung hinter dir, dann gibt es Hoffnung für dich. Der Garten der Wahrheit zieht dich an, das spüre ich“. Ich gab zu, dass der Ort mich faszinierte. Viele der uns passierenden Frauen sahen Spice direkt an. Dann folgte immer ein Nicken der beiden Parteien. Mir fiel auch ein Tisch mit Frauen auf, deren Kleidung eine Mischung aus klassischen, fließenden Beduinengewändern und katholischem Habitus war. Ihr kennt sie aus den Straßen von Berlin. „Klimanonnen“, wie der Berliner sagt, freiwillige Mediatory bei Klimavergehen. Ich fragte, ob die Aktivistinnen hier waren, um einen Konflikt zu lösen. Spice sah mich amüsiert an und meinte, sie wären nur zu Besuch. Um zu lernen. Wie ich.
Aus der Küche wurden immer wieder volle Teller angetragen und durch Blick- oder Rufkontakt an Tische gefordert. Die jeweilige Tischgemeinschaft bediente sich dann. Gericht und Zutaten waren bester Qualität. Zu meinem Erstaunen gab es echte Fleischelemente. Spice orderte reichlich an den Tisch, aß selbst wenig. Die anderen Menschen schienen mich kaum zu bemerken, unterhielten sich in einer mir unbekannten Sprache. Ich fischte nach Themen, erwähnte die Photon-Stiftung, die mich hierher geschickt hatte. Spice sagte, die Existenz des Sietch Atreides sei kein Geheimnis. „Wir empfange viele Menschen, die sich für die neue Religion interessierten, Fragen haben. Wir freuen uns, wenn mehr Menschen den Ruf in die Wüste hören. Noch kann draußen Menschen geben, die gerettet werden können. Photon selbst kenne ich nicht, aber sie ist eine Visionärin. Sie zeigt Leadership, indem sie zu uns weist. Zu den Hütern der kommenden Wahrheit“.
Ich erwähnte, dass ich Zweifeln für wichtiger hielt als Wahrheiten. Dann erinnerte ich mich, dass die Photon-Stiftung mich angewiesen hatte, nach einem „Irre Levant“ zu fragen, ihn vielleicht zu finden. Sorge wanderte über das Gesicht meines Gegenübers. Spice stand auf, verabschiedete sich knapp, wünschte mir Glück und ging davon. Ein Mann stellte sich neben mich, forderte mich auf, ihm zu folgen. Es ging zurück nach Merída. Vor dem Bahnhof angekommen nickte mein Fahrer und wartete geduldig, bis ich die Wagentür hinter mir geschlossen hatte. Es war ein heißer Abend, und ich musste mir eine Bleibe suchen.